Nach der AWMF-Leitlinie Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung (AWMF-Registernummer: 094/001, Überarbeitung Januar 2019) muss der medizinische Gutachter u. a. folgende Vorgaben beachten:
- Eine sachgerechte Erstellung eines Gutachtens ist nur möglich, wenn der Gutachter über eingehende Kenntnisse in dem betroffenen Fachgebiet verfügt und jede Expertise mit der erforderlichen Sorgfalt anfertigt.
- Der Gutachter ist grundsätzlich an Beweisfragen und Weisungen gebunden, insbesondere bei Gerichtsgutachten.
- So bestimmt das Gericht bzw. der Auftraggeber [d. h. hier der Versicherer] insbesondere bei streitigem Sachverhalt, welche Tatsachen der Sachverständige der Begutachtung zugrunde legen muss.
Gerade bei der Begutachtung für die private Krankentagegeld- und Berufsunfähigkeitsversicherung wird gegen diese grundlegenden Forderungen jedoch nicht selten verstoßen, was das Gutachten anfechtbar, im schlimmsten Fall sogar nicht verwertbar macht. Das zeigen Beispiele aus der Arbeit des Autors, dem solche Gutachten zur Stellungnahme bzw. Qualitätsprüfung vorgelegt werden.
So wird häufig der Grundsatz der Begutachtung nur im eigenen Fachgebiet nicht beachtet. Ein typisches Beispiel sind folgende Ausführungen in einem neurochirurgischen Krankentagegeld-Gutachten aus dem 3. Quartal 2021: „Zur Zeit ist der Proband auf Grund von Long-COVID-Folgen krank, arbeits- und dienstunfähig.“ mit folgender (entlarvender) Ergänzung: „Die Long-COVID-Folgen fallen nicht in meine neurochirurgische Fachkompetenz und sind noch nicht detailliert erforscht und publiziert.“
Besonders problematisch wird es für den Versicherer, wenn Gutachter fachfremde und einander widersprechende Beurteilungen abgeben. Das zeigt der Fall eines 41 Jahre alten Kfz-Technikmeisters, der seit Jahren wegen anhaltender orthopädischer Beschwerden (im Schulter- und Lumbalbereich) sowie wegen einer schweren chronischen Nierenerkrankung (mit Zustand nach Nierentransplantation, gefolgt von Transplantat-Versagen und Rezidiv der Erkrankung mit zunehmender Niereninsuffizienz) arbeitsunfähig war. Die Begutachtung erfolgte parallel durch einen Orthopäden sowie durch einen Internisten/Nephrologen.
Sowohl im Gutachten des Orthopäden als auch im Gutachten des Internisten/Nephrologen wurde angegeben, dass aus Sicht des jeweiligen Fachgebiets zu 100 % Arbeitsfähigkeit (!) ab dem Untersuchungstag vorliege. Dennoch behaupteten beide Gutachter, es bestehe weiter zu 100 % Arbeitsunfähigkeit, mit folgenden Begründungen:
- Orthopäde: „Erhebliche internistische Grunderkrankungen, Niereninsuffizienz, Erschöpfung“
- Internist/Nephrologe: „Erhebliche schmerzhafte Funktionseinschränkungen insbesondere des rechten Schultergelenks und der Wirbelsäule“
Es ist für den Versicherer nun ausgesprochen schwierig, mit solchen fachfremden, einander widersprechenden gutachtlichen Beurteilungen umzugehen; diese schaden mehr, als sie nutzen.
Problematisch kann weiter die – auch ergänzende – Erhebung der Arbeitsanamnese (als Grundlage für die Begutachtung) durch den medizinischen Sachverständigen sein: Das wird von den Versicherern zwar im Rahmen der Leistungsprüfung regelmäßig gewünscht, ist vor Gericht jedoch nicht zulässig!
So wurde vom Bundesgerichtshof (BGH; Urteil v. 12.6.1996, AZ: IV ZR 116/95, Frankfurt/M.) ausdrücklich festgestellt, dass dem zur Frage des Ausmaßes der Berufsunfähigkeit zu beauftragenden ärztlichen Gerichtssachverständigen vollständig und als für ihn „unverrückbar feststehender Sachverhalt“ eine konkrete Beschreibung des beruflichen Tätigkeitsbildes vorzugeben ist. Dabei muss bekannt sein, wie das Arbeitsumfeld des Versicherten tatsächlich beschaffen ist und welche konkreten Anforderungen es an ihn stellt.
Obwohl also klar sei, dass die Arbeitsanamnese im Prozess vom Gericht vorgegeben werde, komme es in der Praxis so gut wie immer dazu, dass der Gerichtssachverständige im Gespräch mit dem Versicherten Teiltätigkeiten abfrage und dabei meist auch neue Details geschildert bekomme, die er dann seinem Gutachten zugrunde lege, kritisiert der Fachanwalt für Versicherungsrecht Kai-Jochen Neuhaus in der Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“ (Heft 24/2021, S. 1525-1538): Der Versicherte (der Kläger) erhalte dadurch etwa die Gelegenheit, zu dramatisieren, indem von ihm belastende Teiltätigkeiten geschildert werden, welche womöglich nicht Gegenstand der vorher erforderlichen Beweisaufnahme zum Beruf gewesen seien. Ein solches Vorgehen verletze jedoch den Grundsatz des rechtlichen Gehörs zu Ungunsten des Versicherers und führe faktisch dazu, dass unzulässigerweise streitige Gegenstände wie unstreitige oder bewiesene behandelt werden.
Gutachter sollten daher genau prüfen, ob die Angaben des Versicherten deckungsgleich mit den vorgegebenen Tätigkeiten seien und etwaige Abweichungen im Gutachten kenntlich machen sowie ausführen, ob diese für das Gutachten relevant seien, so Neuhaus. Damit könnten das Gericht sowie die Parteien (Kläger/Versicherter und beklagte Versicherung) prüfen, ob dies prozessuale Konsequenzen nach sich ziehen müsse.
Dass ein Verstoß gegen diesen Grundsatz ganz erhebliche, vom Gutachter nicht erwartete und schon gar nicht gewünschte Folgen haben kann, zeigt folgendes Beispiel:
Eine in der prä- und post-operativen Betreuung orthopädischer Patienten tätige Krankenschwester war viele Monate arbeitsunfähig wegen Einschränkung der Belastbarkeit v. a. der linken Hand nach zwei sehr komplexen Operationen des linken Daumensattelgelenks wegen Rhizarthrose.
Bei einer deswegen vom Krankentagegeld-Versicherer veranlassten Begutachtung machte sie folgende Angaben zu den beruflichen Belastungen:
- 100 % Handbeanspruchung
- 70 % schweres Heben und Tragen
- 10 % Überkopfarbeiten
- 20 % Arbeit im Knien/gebückt
- 15 % Arbeit im Sitzen
- 15 % Arbeit am PC
Nachdem im Rahmen einer vom Versicherer veranlassten Begutachtung festgestellt worden war, dass Berufsunfähigkeit (im Sinne der Krankentagegeldversicherung) vorliege, und der Versicherer deswegen die Krankentagegeld-Leistungen eingestellt hatte, klagte die Versicherte gegen diese Entscheidung. Das zuständige Landgericht beauftragte daraufhin einen medizinischen Gutachter mit der Vorgabe, dieser solle seinem Gutachten die beruflichen Belastungen „wie von Versicherter genannt“ zugrunde legen.
Der Gerichtsgutachter führte dagegen aus, „die angeführten Arbeitsbeschreibungen“ seien aus seiner Sicht (aufgrund eigener Erfahrungen als operativ tätiger Orthopäde) „widersprüchlich“. Er sei die Tätigkeiten mit der Versicherten „nochmals durchgegangen“ mit folgendem Ergebnis: Die Versicherte sei „zu jedem Zeitpunkt ihrer Tätigkeiten zu mindestens 50 Prozent allein mit administrativen Tätigkeiten befasst“ gewesen, „bei der ein kraftvoller Einsatz der linken Hand nicht notwendig“ gewesen sei.
Demzufolge liege nach seiner Beurteilung Berufsunfähigkeit nicht vor.
Nachdem der Gerichtsgutachter die genannten Vorgaben des Gerichts zur beruflichen Tätigkeit nicht berücksichtigt hat, sondern sein Gutachten ganz im Gegenteil auf neue Angaben der Versicherten (der Klägerin!) stützte, ohne das mit dem Gericht abzustimmen, kann dieses Gutachten vom beklagten Versicherer wegen Parteilichkeit abgelehnt werden.
Der Versicherer kann hier zudem prüfen:
- Hatte die Versicherte beim Krankentagegeld-Bezug bewusst gelogen?
Das wäre ein Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben mit entsprechenden Konsequenzen.
- War die Versicherte damals wirklich zu 100 % arbeitsunfähig, wenn sie zu mindestens 50 % administrative Tätigkeiten (ohne Belastung der Hand) ausgeübt hat? Und wurden denn die Krankentagegeld-Leistungen überhaupt zu Recht ausbezahlt?
Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen des Berliner Kammergerichts in einem Urteil vom 12.11.2014 (AZ: 6 U 66/13):
In einem Rechtsstreit um Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung hatte die Klägerseite am Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen das Fehlen einer Fremdanamnese als weitere Begutachtungsgrundlage moniert und sich dabei auf die (damalige Fassung der) „S2k-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen“ berufen.
Dies rechtfertigt jedoch nicht die Feststellung, das Gutachten sei mangelhaft, so das Kammergericht: Zum einen konnte dem Wortlaut der (damaligen) Leitlinie nicht entnommen werden, dass ein Gutachten, das keine Fremdanamnese berücksichtigt, nicht richtliniengerecht ist. Zum anderen würde diese Leitlinie ohnehin durch das dann zu beachtende Prozessrecht überlagert. Denn im Zivilprozess ist es wegen des dort geltenden Beibringungsgrundsatzes grundsätzlich Aufgabe der Parteien, substantiiert den aus ihrer Sicht entscheidungsrelevanten Sachverhalt vorzutragen.
Keinesfalls steht es dem Sachverständigen jedoch frei, von sich aus einem weiteren, möglicherweise streitrelevanten Sachverhalt zu ermitteln, indem er zur Erstellung einer Fremdanamnese bei einer Prozesspartei oder am Rechtsstreit nicht beteiligten Personen weitere Tatsachen erfragt, erklärten die Berliner Richter.
Dr. Gerd-Marko Ostendorf
Versicherungsmediziner