Fragwürdige Diagnosen aus dem Bereich der Alternativmedizin können bei der Begutachtung für die private Berufsunfähigkeitsversicherung (BU-Versicherung) problematisch sein, wenn unklar ist, was für ein Krankheitsbild vorliegt (bzw. ob überhaupt eine Krankheit besteht) und wie dieses die berufliche Leistungsfähigkeit beeinflusst.
Häufig handelt es sich dabei um sog. umweltassoziierte Krankheitsbilder, die ein vielfältiges, zugleich aber immer wieder in ähnlicher Form vorgebrachtes Beschwerdebild mit vorzeitiger Erschöpfbarkeit und chronische Müdigkeit aufweisen. Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Schwindel, Kopf-, Muskel- und Gelenkschmerzen, allgemeine Schwäche usw. werden fast stets angeführt (Hausotter / Neuhaus: Die Begutachtung für die private Berufsunfähigkeitsversicherung. Karlsruhe 2019).
Schwermetallvergiftung bzw. -belastung
Typisch ist etwa die Diagnose einer angeblichen Schwermetallvergiftung bzw. – noch weniger präzise – einer „Schwermetallbelastung“. Die einer solchen Diagnose meist zu Grunde liegende Urinuntersuchung auf Schwermetalle nach Einnahme eines Chelatbildners hat jedoch keine beweisende diagnostische Aussagekraft, zumal der Test nicht standardisiert ist und den gemessenen angeblich erhöhten Schwermetallkonzentrationen im Rahmen dieses Tests nur kleine Schwermetallmengen entsprechen.
So führten Greiner und Drexler im Deutschen Ärzteblatt (2017) aus, dass die Urinuntersuchung auf Schwermetalle nach Verabreichung eines Chelatbildners keine wesentlichen zusätzlichen Erkenntnisse zur Schwermetall-Belastung erlaubt. Gerade auch in Abwägung der potenziellen Nebenwirkungen eines Chelatbildners ist ein solcher Einsatz zur Diagnostik nicht gerechtfertigt ist. Zudem existieren keine allgemein anerkannten Referenzwerte, sodass die Relevanz von Metallkonzentrationen nach einer solchen Mobilisation kaum beurteilbar ist.
Aus gutachtlicher Sicht ist zudem zu beachten, dass die Diagnose einer echten, klinisch relevanten Schwermetallvergiftung in Deutschland sehr selten ist.
Zur Diagnosesicherung gehören v. a.
- eine nachweisbare Exposition gegen Schwermetalle
- ein eindeutiges klinisches Krankheitsbild
- entsprechende Befunde apparativer Diagnostik
- valide (!) Laborbefunde
Multiple Chemical Sensitivity (MCS)
Bei der Multiple Chemical Sensitivity (MCS), der Überempfindlichkeit gegen zahlreiche Chemikalien in der Umwelt, handelt es sich um eine Diagnose, die sich nicht durch anerkannte Untersuchungen oder bestimmte pathologische Befunde bestätige lässt. Die Betroffenen sind häufig weiblich, gut ausgebildet und arbeiten in Berufen mit relativ geringen (!) Schadstoffbelastungen; auch haben sie eher niedrigere (!) Schadstoffwerte im Blut. Nach den in umweltmedizinischen Ambulanzen gemachten Erfahrungen tritt MCS im engeren Sinn nur sehr selten (wenn überhaupt) in Erscheinung.
Die aufwändige deutsche „MCS-Verbundstudie“ (2008) lässt es als gesichert erscheinen, dass es weder eine abgrenzbare Symptomatik der MCS noch nachvollziehbare ätiologische Zusammenhänge gibt, wie Röttgers 2018 in der Zeitschrift „Versicherungsmedizin“ darlegte.
Es gibt daher, so Röttgers, bei der Multiple Chemical Sensitivity
- keinen abgrenzbaren Symptomenkomplex
- keine statistischen Zusammenhänge zwischen den angeschuldigten Schadstoffen und den subjektiven Beschwerden
- keine nachweislich erhöhten Schadstoffbelastungen
- keine besondere Disposition von MCS-Patienten gegenüber alltäglichen Belastungen
Welche gutachtlichen und juristischen Probleme eine angebliche Multiple Chemical Sensitivity verursachen kann, zeigt folgender Fall, über den die Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“ (2019) berichtete:
Dabei ging es um die Frage, ob der Kläger, ein Sachbearbeiter im Innendienst einer Versicherung, wegen einer krankhaften Überempfindlichkeit gegenüber diversen, insbesondere in der Büroluft vorhandenen Chemikalien berufsunfähig war. Dieser hatte angegeben, beim Einatmen von Chemikalien, etwa aus Ausdünstungen von Teppichklebern oder von Drucker-Tonerstaub, unter Beschwerden zu leiden wie Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Kopf- und Gelenkschmerzen, Hautirritationen, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall.
Das zunächst zuständige Landgericht (LG) hatte der Klage stattgegeben, da der von ihm beauftragte umweltmedizinische Sachverständige ausgeführt hatte, der Kläger sei aktuell nicht imstande, seinen Beruf im Versicherungsinnendienst auszuüben. Er war auf Grundlage seiner Anamnese davon ausgegangen, dass die vom Kläger geschilderten Beschwerden wie Einschränkungen der Konzentrationsfähigkeit, Müdigkeit, Durchfälle etc. tatsächlich bestünden und dass ursächlich hierfür – auch wenn dies organisch (etwa mittels Allergietestung) nicht nachweisbar sei – eine krankheitswerte Reaktion des Klägers auf in der Umwelt vorhandene chemische Stoffe sei. Unter diesen Umständen sei ihm ein regelhaftes Arbeiten nicht mehr möglich.
Dagegen hatte das anschließend angerufene Oberlandesgericht (OLG) die Klage insgesamt mit der Begründung abgewiesen, dass – entgegen der Auffassung des LG – die Feststellungen des umweltmedizinischen Sachverständigen die Annahme einer Berufsunfähigkeit nicht rechtfertigten. Der Sachverständige sei vielmehr so zu verstehen, dass der Kläger meine, krank zu sein, bzw. erwarte, krank zu werden, und er wegen der Furcht vor den Auswirkungen von Chemikalien in den Büroräumen diese meide. Somit sei nicht mit genügender Wahrscheinlichkeit festgestellt, dass der Kläger an einer Erkrankung leide, so das OLG.
Dies hielt jedoch einer Prüfung durch den Bundesgerichtshof (BGH) nicht stand: Dadurch, dass das OLG als Berufungsgericht den umweltmedizinischen Sachverständigen nicht erneut angehört hatte, obwohl es dessen Ausführungen anders gewürdigt hatte als das LG, hat es den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt, rügte der BGH mit Beschluss vom 6.3.2019 (AZ: IV ZR 128/18):
Zwar steht es grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts, ob und inwieweit eine im ersten Rechtszug durchgeführte Beweisaufnahme zu wiederholen ist. Allerdings bedarf es dann einer erneuten Anhörung des Sachverständigen durch das Berufungsgericht, wenn es dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen will, insbesondere ein anderes Verständnis der Ausführungen des Sachverständigen zugrunde legen und damit andere Schlüsse ziehen will als der Erstrichter. Diese „Gehörsverletzung“ ist entscheidungserheblich, so der BGH. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht anders entschieden hätte, wenn es den umweltmedizinischen Sachverständigen selbst zu den Ergebnissen seiner Begutachtung angehört hätte.
Tatsächlich finden sich fragwürdige umweltmedizinische Konzepte gelegentlich sogar auf renommierten medizinischen Fachtagungen, so etwa auf dem Internistenkongress 2019 das Symposium „Multimorbidität – Herausforderungen an eine individualisierte Medizin“, ausgerichtet von der Europäischen Akademie für Umweltmedizin e.V. Propagiert wurde dort die „Klinische Umweltmedizin als Vorreiter einer individualisierten Medizin“, wobei nicht nur die Multiple Chemical Sensitivity und das chronische Erschöpfungssyndrom (CFS), sondern auch die Fibromyalgie als eine Folge genetisch bedingter Entgiftungsstörungen interpretiert wurden. Da verwundert es allerdings nicht, dass von den Referenten beklagt wurde, dass die Klinische Umweltmedizin an den Universitäten nicht gelehrt und im „Begutachtungswesen“ als „schulmedizinisch nicht anerkannt“ eingestuft werde.
Gutachten, welche sich an diesem Konzept der Klinische Umweltmedizin orientieren, sind aber mit großer Vorsicht zu interpretieren: Grundsätzlich gilt, dass Gutachter an die medizinisch-wissenschaftlichen Standards gebunden sind, wie in der S2k-Leitlinie „Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung“ (AWMF-Registernummer: 094/001) ausdrücklich gefordert wird.
Dr. Gerd-Marko Ostendorf
Versicherungsmediziner