Bis zu 27 Prozent der Menschen in Deutschland leiden an chronischen Schmerzen, wie auf dem Deutschen Schmerzkongress 2022 vom 19. bis 22. Oktober 2022 in Mannheim berichtet wurde. Dabei handelt es sich nicht einfach um länger anhaltende akute Schmerzen, sondern um ein eigenes Krankheitsbild – mit erheblichen Konsequenzen auch für die Begutachtung.

Dass chronische Schmerzen durchaus zu Berufsunfähigkeit führen können – mit entsprechenden Konsequenzen für die Begutachtung –, wird seit Jahren auch in der Rechtsprechung erkannt. So erklärte das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe mit Urteil vom 6.9.2016 (AZ: 12 U 79/16):

Grundsätzlich ist richtig, dass als Krankheit im Sinne der Berufsunfähigkeitsversicherung auch Schmerzen, deren Ursache sich nicht klären lässt, in Betracht kommen. In prozessualer Hinsicht stellt sich für jedoch das Problem der Beweisbarkeit, da es sich bei Schmerzen und deren Ausmaß um subjektive Empfindungen handelt. Den Nachweis, dass subjektiv empfundene Schmerzen objektiv die Annahme der Berufsunfähigkeit rechtfertigen, kann der Versicherungsnehmer auf zwei Wegen führen:

  1. Durch den Nachweis körperlicher (vorliegend insbesondere orthopädischer oder neurologischer) Ursachen
  2. Durch den Nachweis psychischer bzw. psychosomatischer Bedingtheit, die ihrerseits Krankheitswert aufweisen kann, wie insbesondere eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung

Das moderne Konzept der Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzen (mit entsprechenden Konsequenzen für die Begutachtung) zeigen medizinische Fortbildungsveranstaltungen der letzten Jahre:

Chronische Schmerzen – eine eigenständige Erkrankung

Die neuen Ansätze zur Definition, Klassifikation und Typisierung von chronischen Schmerzen legen ein integratives psychobiologisches Modell zugrunde und sehen chronische Schmerzen als eigenständige Erkrankung mit spezifischen Anforderungen an Diagnostik und Therapie, berichtete Prof. Dr. Herta Flor, wissenschaftliche Direktorin des Instituts für Neuropsychologie und Klinische Psychologie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim, auf dem 10. Psychiatrie-Update-Seminar am 6. und 7. März 2020 in Wiesbaden.

Schmerz wird heute als ein multidimensionales Phänomen gesehen, das von afferenten und efferenten Nervenimpulsen auf der Ebene des Rückenmarks moduliert wird und neben der sensorisch-diskriminativen auch eine motivational-affektive und eine kognitiv-bewertende Komponente hat. Diese neue Sicht hat auch die Unterscheidung von somatogenen (organisch bedingten) und psychogenen Schmerzen obsolet gemacht, weil psychische und somatische Faktoren in der Schmerzentstehung immer interagieren und nicht sich gegenseitig ausschließende exklusive Schmerzursachen sind, erklärte Flor. Chronischer Schmerz ist häufig mit Depression, Hilflosigkeit, Irritierbarkeit sowie Beeinträchtigungen im Familienleben, am Arbeitsplatz, bei sozialen und Freizeitaktivitäten verbunden.

Diese neuen Erkenntnisse wurden bereits 2017 bei der damaligen Aktualisierung der AWMF-Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen (Leitlinie „Schmerzbegutachtung“; WMF-Registernummer 094 – 003) berücksichtigt: Der Vorschlag einer zweiteiligen Begutachtung (zunächst Klärung körperlicher Beeinträchtigungen, dann psychiatrische / psychosomatische Begutachtung) wurde ausdrücklich verlassen, da diese Dichotomie sachlich nicht mehr zu begründen ist. Gefordert ist stattdessen, die Begutachtung chronischer Schmerzen grundsätzlich parallel unter somatischen und psychiatrischen / psychosomatischen Aspekten vorzunehmen.

Therapie chronischer Schmerzen oft mangelhaft

Psychosoziale und funktionelle Risikofaktoren für eine Chronifizierung chronischer Schmerzen (sog. „yellow flags“) werden häufig zu spät erkannt und im Verlauf noch immer zu wenig beachtet. Dagegen resultiert ein einseitig somatisches Vorgehen in Überdiagnostik (insbesondere durch Bildgebung), medikamentöser Fehlversorgung (nicht indizierte Verordnung von Schmerzmitteln) und invasiven Therapiemaßnahmen.

„Es gibt große Unterschiede zwischen der empfohlenen leitliniengerechten Behandlung und der tatsächlich angewendeten Therapie“, kritisierte Prof. Dr. Winfried Meißner, Leiter der Sektion Schmerztherapie am Universitätsklinikum Jena und Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft für 2021/2022, auf dem Deutschen Schmerzkongress 2022. In der Folge kommt es häufig zu einer ineffektiven Therapieeskalation bis hin zu Mehrfachoperationen und Frühverrentung. Diese Entwicklung ist mit großen Herausforderungen und explodierenden Kosten für das Gesundheitssystem verbunden.

Dass die derzeitigen schmerztherapeutischen Verfahren vor allem symptomorientiert und deshalb wenig effektiv sind, bemängelte auch Flor. Übersichtsarbeiten zu den Effekten von Pharmakotherapien wie auch von multimodalen Therapien bei chronischen Schmerzen ergeben meist nur geringe bis moderate Effekte. Meist fehlen Langzeitstudien zum dauerhaften Therapieerfolg.

Das Hauptproblem der derzeitigen Schmerztherapien dürfte sein, dass sie zumeist nur symptomatisch und nicht auf den Mechanismen der Schmerzentstehung bzw. -chronifizierung basiert sind, so Flor. Die Forschung zur Rolle von Hirnplastizität und Lernen lege dagegen eine Reihe von neuen Interventionen nahe, die auf aversive Lernprozesse und maladaptive Hirnplastizität zielen und verhaltensorientierte, stimulationsbezogene und pharmakologische Interventionen beinhalten. Ziel sollte eine Mechanismen-orientierte, Patienten- und Subgruppen-spezifische, maßgeschneiderte Intervention sein.

Dass es bei der Behandlung von chronischen Schmerzen in der Regel nicht um Heilung geht, sondern um Akzeptanz, betonte die Anästhesistin und Schmerztherapeutin Jacqueline Heimberg, Oberärztin an der Klinik für Manuelle Medizin an den Sana-Kliniken Sommerfeld, auf dem 125. Internistenkongress vom 4. bis 7. Mai 2019 in Wiesbaden. Wichtig sei ein ganzheitliches Vorgehen mit aktiver Einbeziehung des Patienten, wobei v. a. auch psychische Aspekte berücksichtigt werden müssen.

Auch die physikalische Therapie von Schmerzen hat inzwischen einen bio-psycho-sozialen Ansatz, so Heimberg. Manuelle Therapie als eine Ansammlung verschiedener Techniken ist dagegen obsolet, da sie den Patienten in eine passive Rolle dränge.

Diese neuen Erkenntnisse sind von Bedeutung in der Begutachtung für die private Krankenversicherung unter der Fragestellung, ob eine bestimmte Schmerztherapie bei einem konkreten Patienten als medizinisch notwendige Heilbehandlung anzusehen ist.

Aktuelle Erkenntnisse zur Fibromyalgie

Neue und wichtige Erkenntnisse gibt es auch zur Fibromyalgie. So ist mittlerweile bekannt, dass bei der Fibromyalgie – neben den psychosomatischen Komponenten – eine Vielzahl körperlicher Veränderungen nachweisbar ist, wie Dr. Kai-Uwe Kern von der Schmerzpraxis Wiesbaden auf dem 13. Orthopädie-Unfallchirurgie-Update-Seminar am 4. und 5. März 2022 in Berlin berichtete.

Zum Beispiel hat eine relevante Gruppe eine Small-Fiber-Neuropathie, andere zeigen eine Dysbalance pro-inflammatorischer und anti-inflammatorischer Zytokine. In letzter Zeit kristallisiert sich heraus, dass innerhalb des Krankheitsbildes der Fibromyalgie mehrere Subgruppen (am ehesten vier bis fünf) bestehen könnten. Auffällig ist zudem eine recht große Überlappung zum Long-COVID-Syndrom, erklärte Kern.

Entsprechend korrigierte Prof. Dr. Winfried Häuser, Ärztlicher Leiter des Schwerpunktes Psychosomatik der Klinik Innere Medizin I des Klinikums Saarbrücken, auf dem 125. Internistenkongress 2019 verschiedene „Fake News“ zur Fibromyalgie:

  • Fibromyalgie ist eine definierte Krankheit, deren Diagnose meist einfach ist, und nicht eine Ausschluss-Diagnose.
  • Kernsymptome der Fibromyalgie sind:
    • chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen
    • nicht erholsamer Schlaf
    • reduzierte körperliche und/oder geistige Leistungsfähigkeit
  • Zur Diagnosestellung ist keine Untersuchung der sog. Tenderpoints erforderlich.
  • Bei der Fibromyalgie handelt es sich um eine Kontinuums-Störung. Daher laute die Frage nicht: „Haben Sie Fibromyalgie?“ sondern: „Wieviel Fibromyalgie haben Sie?“.

Wichtig ist weiter, dass es selten ein reines Fibromyalgiesyndrom gibt, so Häuser. Typisch seien dagegen Mischbilder, etwa mit myofaszialen bzw. neuropathischen Schmerzen, Arthrose oder blandem entzündlichem Rheuma, sowie häufige Überlappungen mit psychischen Störungen wie Depression oder somatoformen Störungen.

Fibromyalgie kann bei besonders schwerem Verlauf durchaus auch eine Ursache für Berufsunfähigkeit (BU) sein. Problematisch ist dann allerdings die Begutachtung, da es bei der Fibromyalgie ja keine messbaren Befunde wie CT-/MRT-/Röntgenbilder oder Laborwerte gibt.

In diesem Zusammenhang ist eine umfangreiche Diskussion zwischen Ärzten und Juristen zu einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 14.4.1999 (AZ: IV Z 289/97) interessant. Zur Frage, in wieweit der Beschwerdevortrag zur Diagnosesicherung bei Fibromyalgie als BU-Ursache herangezogen werden kann, wurde schließlich folgender Konsens erzielt:

  • Die Diagnose (im Rahmen einer gerichtlichen Auseinandersetzung) kann nicht ausschließlich, sondern nur „auch“ (u. a.) durch den Beschwerdevortrag gestützt werden.
  • Die Krankheitsfeststellung kommt ohne objektive Befunde nicht aus; maßgeblich ist das objektive Leistungsbild.

Diese Grundsätze gelten auch weiterhin für die Begutachtung.

Dr. Gerd-Marko Ostendorf
Versicherungsmediziner

Newsletter Ausgabe 01/23