Die gutachtliche Bewertung der Folgen einer Unfallverletzung bei gebrechlichen hochbetagten Versicherten ist nicht immer einfach. In der privaten Unfallversicherung (PUV) sind organische Folgen eines Unfalls versichert – unabhängig vom Alter der Versicherten. Damit unterscheiden sich die Bemessungsempfehlungen der Verletzungen bei älteren Menschen nicht von denen jüngerer Personen.

Der Sachverständige sollte sich an den aktuellen Standardwerken der Begutachtung orientieren. Verwiesen sei hier auf Schiltenwolf/Hollo (2021), Thomann, Grosser, Schröter (2020), das Kursbuch der ärztlichen Begutachtung (Hg. Ludolph, Schürmann, Gaidzik) und die aktuellen Bemessungsvorschlägen der „Sektion Begutachtung“ der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie: „Konsentierte[n] Synopse über Bemessungsempfehlungen für muskuloskelettale Verletzungsfolgen in der Privaten Unfallversicherung“ (MEDSACH118: 2022, S. 10-18).

Da sich bei älteren Probanden meist um mulimorbide Personen handelt ist, bei der Begutachtung zwischen den unfallunabhängigen Funktionsbeeinträchtigungen und den Unfallfolgen zu differenzieren.

Maßgeblich für den Versicherungsschutz und die Bewertung sind die Versicherungsbedingungen. Deren § 3 differenziert zwischen den Unfallfolgen, Krankheiten und Gebrechen. In den Musterbedingen (AUB 2020) des GDV heißt es:

Auszug aus den AUB 2020

3. Was passiert, wenn Unfallfolgen mit Krankheiten oder Gebrechen zusammentreffen?

3.1 Krankheiten und Gebrechen

Wir leisten ausschließlich für Unfallfolgen. Dies sind Gesundheitsschädigungen und ihre Folgen, die durch das Unfallereignis verursacht wurden.

Wir leisten nicht für Krankheiten oder Gebrechen.

Beispiele: Krankheiten sind z.B. Diabetes oder Gelenkerkrankungen; Gebrechen sind z.B. Fehlstellungen der Wirbelsäule, angeborene Sehnenverkürzung.

3.2 Mitwirkung

Treffen Unfallfolgen mit Krankheiten oder Gebrechen zusammen, gilt Folgendes:

3.2.1 Entsprechend dem Umfang, in dem Krankheiten oder Gebrechen an der Gesundheitsschädigung oder ihren Folgen mitgewirkt haben (Mitwirkungsanteil), mindert sich

  • bei den Leistungsarten Invaliditätsleistung und Unfallrente der Prozentsatz des Invaliditätsgrads.
  • bei der Todesfallleistung und, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist, bei den anderen Leistungsarten die Leistung selbst.
  • Rentenbescheide
  • Bescheide des Versorgungsamtes
  • Bescheid der Pflegekasse, Pflegegutachten

Beispiel: Nach einer Beinverletzung besteht ein Invaliditätsgrad von 10%. Dabei hat eine Rheumaerkrankung zu 50% mitgewirkt. Der unfallbedingte Invaliditätsgrad beträgt daher 5%.

3.2.2 Beträgt der Mitwirkungsanteil weniger als 25%, nehmen wird keine Minderung vorgenommen.

 

„Krankheiten“ oder „Gebrechen“
Unter „Krankheit“ ist ein abnormaler Körper- oder Geisteszustand zu verstehen, der einer ärztlichen Behandlung bedarf oder „der eine nicht ganz unerhebliche Störung körperlicher und geistiger Funktionen bewirkt“ (Grimm/Kloth, 6. Aufl., S. 230) zu verstehen. Dabei ist der altersbedingte Normalzustand einer Person gleichen Alters und Geschlechts und kein „Idealzustand“ anzunehmen.

Bei „Gebrechen“ handelt es sich um „dauernde abnorme Gesundheitszustände, die eine einwandfreie Ausübung der normalen Körperfunktionen (teilweise) nicht mehr zulassen“. Weiter heißt es: „Zustände, die im Rahmen der medizinischen Norm liegen oder konstitutionelle Schwächen sind keine Gebrechen, selbst wenn sie zur Disposition für Gesundheitsstörungen oder Empfänglichkeit für Krankheiten führen“.

Schwerbehindertenbescheid und Pflegegutachten beiziehen
Überschneiden sich Unfallfolgen mit vorgestehenden Krankheiten oder Gebrechen, so ist eine Differenzierung für den Sachverständigen schwierig. Eine wichtige Hilfe bei der Differenzierung sind ärztliche Unterlagen, die sich auf den Zeitpunkt vor der Unfall erstrecken sollten. Bestand nur eine gelegentliche Behandlungsbedürftigkeit und lassen die ärztlichen Dokumente erkennen, dass der Betreffende sich in einem durchschnittlichen Zustand befand hat, so kann eine Mitwirkung durch unfallfremde Gebrechen eher als unwahrscheinlich gelten.

Im gegenteiligen Fall sollte der Sachverständige erfragen, ob eine bereits vor dem Unfall eine spezifische Behinderung nach dem Schwerbehindertenrecht anerkannt wurde und ob vor dem Unfall ein Pflegegrad festgestellt worden war. In diesen Fällen empfiehlt es sich, den Versicherten oder dessen Betreuer zu bitten, Kopien des Schwerbehindertenbescheids und des Pflegegutachtens zur Verfügung zu stellen. Hat sich der Pflegegrad nach dem Unfall verändert, so sollte auch das aktuelle Pflegegutachten ausgewertet werden.

Bei Gebrechlichkeit (Frailty) hingegen handelt es sich um ein multifaktorielles Geschehen, das bei Betroffenen durch die sich selbst im Sinne eines Circulus vitiosus verstärkende Wechselwirkung von 5 Faktoren (unfreiwilliger Gewichtsverlust, Muskelschwäche, subjektive, mentale und/oder physische Erschöpfung, Immobilität, herabgesetzte körperliche Aktivität) in ihrer seiner Gesamtheit die Geistes- und Körperfunktionen reduziert.

Sie betrifft alle Menschen, liegt im Rahmen der medizinischen Norm und bildet den physiologischen Alterungsprozess ab. Die „natürliche“ Altersgebrechlichkeit darf also nicht mit dem Begriff des Gebrechens (gemäß den AUB der privaten Unfallversicherung) verwechselt werden. Es handelt sich damit nicht um einen regelwidrigen Zustand im Sinne eines Gebrechens. Sofern keine Behandlungsbedürftigkeit vorliegt, handelt es sich auch nicht um eine Krankheit im Sinne der AUB. Gebrechlichkeit kann aber Auswirkungen auf die zu beurteilende Funktion haben.

Dies soll an folgender Kasuistik verdeutlicht werden:

Kasuistik
Die am Unfalltag 84- jährige Versicherte litt bereits am Tag des zu begutachtenden Ereignisses an einer fortgeschrittenen Demenz.

Sie wurde beim Spaziergang mit ihrer Pflegerin von einem abbiegenden PKW von hinten erfasst. Beide Personen wurden verletzt. Die Probandin stürzte auf die Schulter und zog sich hierbei eine subkapitale Humerusfraktur zu.

Der Ehemann (gesetzlicher Betreuer) begehrt namens der Versicherten nun Leistungen aus der PUV. Die Begutachtung fand als Hausbesuch in der Wohnung der Verletzen und ihres Ehemannes statt.

Alle erforderlichen Unterlagen lagen vor. Aus der Akte (RTW – Protokoll, Befundbericht des Krankenhauses) und den vorgelegten radiologischen Original-Dokumenten ergab sich kein Zweifel hinsichtlich des Kausalzusammenhanges und dem Vorliegen eines adäquaten Ereignisses. Aus der Behandlungsakte der Hausärztin ergaben sich keine Hinweise auf eine vorbestehende Funktionsstörung des betroffenen Armes.

Die Probandin selbst lief während des etwa einstündigen Besuches fortwährend ziellos in der Wohnung umher. Sie erfasste offensichtlich nicht den Zweck der Untersuchung und nahm gegenüber der Gutachterin eine ängstlich-abwehrende Haltung ein.


Eine Unfallanamnese oder die Schilderung biographischer Daten war nicht möglich.

Diese Daten wurden ausschließlich aus den Schilderungen des Ehemannes und den vorliegenden Dokumenten entnommen. Hieraus ergaben sich keine Hinweise auf eine vorbestehende Funktionsbeeinträchtigung des betroffenen Armes.

Die Röntgenbilder zeigten eine am Unfalltrag frische Fraktur und eine gelungene Osteosynthese mit zeitgerechter Heilung. Eindeutige Zeichen einer vorbestehenden Osteoporose lagen nicht vor.

Die körperliche Untersuchung war nur ansatzweise durchführbar. Die Probandin ließ ein Entkleiden nicht zu. Einfache Aufforderungen, etwa die Arme im Schultergelenk zu erheben, konnte sie nicht umsetzen.

Beim Versuch einer passiv-assistiven Untersuchung wurde eine muskuläre Gegenspannung präsentiert. Eine aussagekräftige Funktionsuntersuchung war nicht möglich. Immerhin konnte festgestellt werden, dass eine Schultersteife nicht vorlag und keine Krepitation zu spüren war. Trophische Störungen der Hand lagen nicht vor; fremdanamnestisch und während der Untersuchung ergaben sich keine Hinweise auf neurologische Störungen.

 

Wie lässt sich die Invalidität dieses Falles bewertet?
In diesen komplexen Fällen kommt aus Sicht des Verfassers dem Vorliegen einer vollständigen Akte eine entscheidende Bedeutung zu. Neben den medizinischen Befunden ist besonders auf Dokumente, die Rückschlüsse auf vorbestehende Beeinträchtigungen zulassen, zu achten. Außerdem muss sorgfältig abgewogen werden, ob das angeschuldigte Ereignis als verletzungsadäquat anzusehen ist.

Letztlich konnte eine gutachtliche Bemessungsempfehlung trotz erheblicher Einschränkungen hinsichtlich der Güte der Anamneseerhebung und der körperlichen Untersuchung unter Berücksichtigung der Akten und der radiologischen Befunde abgegeben werden.

Der Unfall wurde als adäquates Trauma bewertet. Die Verletzung hätte auch bei einer gesunden, jüngeren Person entstehen können. Eine Mitwirkung durch unfallfremde Erkrankungen oder Gebrechen konnte nicht wahrscheinlich gemacht werden. Eine Vorinvalidität war nicht dokumentiert.

Bei gegebener Unfallkausalität und anhand der radiologischen Befunde wurde von einem durchschnittlich zu erwartenden Behandlungsergebnis ausgegangen und eine „rein unfallbedingte Invalidität“ des betroffenen Armes von 3/20 angenommen.

Diese gründete sich auf eine nachvollziehbare Bewegungseinschränkungen und Belastungsminderungen, die nach derartigen Verletzungen zu beobachten sind.

Aktuelle Bemessungsempfehlungen der Sektion Begutachtung der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie für Funktionseinschränkungen im Schultergelenk

Bewegungsstörung im Schultergelenk, mit Auswirkungen auf die Armfunktion

Funktionsstörung
Invalidität
Armhebung bis 120 °
2/20 Armwert
Armhebung bis 90 °
4/20Armwert
Armhebung bis 60 °
6/20 Armwert

Bei zusätzlichen bedeutsamen Störungen mit Einschränkung der Rotation von 20 Grad und mehr erhöht sich der Armwert um 1/20 .

Quelle: Die in der Tabelle angegebenen Werte basieren auf der „Konsentierte[n] Synopse über Bemessungsempfehlungen für muskuloskelettale Verletzungsfolgen in der Privaten Unfallversicherung“. MEDSACH118: 2022, S. 10-18. Hieran haben mitgearbeitet: K. Dresing, T. Eyfferth, P. W. Gaidzik, M. Grotz, S. Lundin, M. Schiltenwolf, K.-D. Thomann, B. Widder, J. Zeichen.

Nach den aktuell gültigen Bemessungsempfehlungen ist die Bemessung der Funktionsstörung der Schulter vor allem auf dem Boden der Beeinträchtigung der Beweglichkeit in den Hauptbewegungsebenen (Vorwärtsführung, Seithebung und Rotation) vorzunehmen.

Im konkreten Fall waren diese Parameter aber trotz größter Bemühungen nicht mit der normalerweise gebotenen Exaktheit zu erheben. Letztlich musste bei der Einschätzung der Schulterfunktion auf die gutachterliche Erfahrung der bei ähnlich gelagerten Verletzungen resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen zurückgegriffen werden. Eine hohe fachliche Expertise in der Behandlung der zu beurteilenden Verletzungen ist unbedingte Voraussetzung hierfür.

Ein praktischer Lösungsansatz: Die „rein unfallbedingen Invalidität“
Neben psychisch-mentalen Beeinträchtigungen können auch komplexe körperliche Leiden die Beurteilung deutlich erschweren. Exemplarisch seien Gangstörungen im Alter genannt, die meistens multifaktoriell bedingt sind. Beeinflussende Größen sind u. a. Kraftminderung, Gleichgewichtsstörungen, Beeinträchtigung der Sehfähigkeit, Herz-/Kreislaufinsuffizienz usw. Regelmäßig kommen mentale Funktionsbeeinträchtigungen hinzu.

In diesen Fällen kann die Beurteilung einer „rein unfallbedingen Invalidität“ eine praktischer Lösungsansatz sein. Die Problematik der Invaliditätsfeststellung sollte in diesen Fällen transparent im Gutachten erläutert werden.

Dem Verfasser ist bewusst, dass hierbei eine gewisse Unschärfe, die sich aus der Fallkonstellation ergibt, nicht zu vermeiden ist. Daher sei an dieser Stelle sei explizit darauf hingewiesen, dass diese Vorgehensweise Ausnahmefällen vorbehalten ist.

Wann immer eine Bewertung nach den sonst üblichen Grundsätzen möglich ist, ist diese vorzunehmen. Daher ist eine Begutachtung nach Aktenlage – ohne gutachterliche Untersuchung – aus Sicht des Unterzeichners gerade bei diesem Personenkreis nicht zielführend:

  • Nur im persönlichen Kontakt ist es möglich, alle personenbezogenen Aspekte und Faktoren zu erfassen und (unter Berücksichtigung einer vollständigen Akte im Sinne einer integrativen Betrachtung) eine sachgerechte Bewertung vorzunehmen.

  • Die körperliche Untersuchung erlaubt (unter Berücksichtigung vor allem der bildtechnischen Befunde) die Einschätzung, ob durchschnittliche, eher günstige oder eher ungünstige Folgezustände der jeweils zu beurteilenden Verletzungen vorliegen.

Fazit für die Praxis
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Begutachtung hochbetagter Menschen im Vergleich zum übrigen Kreis der Versicherten trotz prinzipiell gleicher Grundsätze im Einzelfall eine gutachterliche Herausforderung darstellen kann.

In diesen Fällen sind neben besonderer Sorgfalt und kritischer Beachtung der Aktenlage eine hohe fachliche Expertise und Erfahrung der Gutachterinnen und Gutachter gefragt.

Nur durch persönliche gutachterliche Untersuchung können alle Aspekte erfasst und sachgerecht eingeordnet werden. Hierbei können in wenigen, hochkomplexen Einzelfällen Sonderlösungen, wie die Angabe einer „rein unfallbedingten Invalidität“, geeignet sein, derartige Fallkonstellationen befriedigend und in der Zusammenschau sachgerecht zu beurteilen. Der Sachverständige gibt eine objektive und neutrale Bemessung der Invalidität ab, die im Regelfall auch einer gerichtlichen Überprüfung standhalten wird.

 

Dr. Robert Hartel
Facharzt für Chirurgie, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie