Am 16. November 2022 veranstaltete das Institut für Versicherungsmedizin (IVM) in Frankfurt am Main eine ganztägige Fortbildungsveranstaltung zur privaten Unfallversicherung. Sie wurde von Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann und Prof. Dr. Marcus Schiltenwolf, Heidelberg, geleitet. An der Fortbildung nahmen ca. 60 Personen teil: Ärzte, Juristen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von privaten und gesetzlichen Unfallversicherungsträgern.

Der Rechtsanwalt Oliver Tammer informierte im einleitenden Vortrag über die rechtlichen Grundlagen der privaten Unfallversicherung sowie aktuelle Entwicklungen unter Berücksichtigung neuer Gerichtsurteile. Der Referent setzte sich insbesondere mit den Grenzfällen der Anerkennung von Unfallereignissen, der Vorinvalidität und der Mitwirkung auseinander.

Prof. Dr. Schiltenwolf stellte die aktuellen medizinischen Kriterien der Invaliditätsbemessung in der privaten Unfallversicherung dar. Diese wurden nach ausführlicher Diskussion durch die „Sektion Begutachtung“ der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) verabschiedet. Der Referent betonte, dass es sich um Anhaltspunkte für die Bewertung von Verletzungen handele, die auf den jeweiligen Einzelfall abzustimmen seien. In der Diskussion wurde deutlich, dass Diskussionsbedarf bei einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen besteht und die Prothesenzuschläge ggf. neu zu bewerten sind. Ein Prothesenzuschlag könne nicht höher sein als ein sehr hoher Invaliditätsgrad bei Gelenkdestruktionen.

Die Neurologin Dr. Katrin Weigelt beschäftige sich mit speziellen neurologischen Problemfällen: Distorsionen der Halswirbelsäule bei Personen, die an einer krankhaften Einengung des Spinalkanals leiden. Der Beitrag ist in Kurzform weiter unten im Newsletter nachzulesen.

Die Prothesenzuschläge bei Endoprothesen nach unfallbedingten Verletzungen wurden von Dr. Robert Hartel, Unfallchirurg und Orthopäde, vorgestellt. Der Referent machte zugleich Vorschläge für die Bewertung der Vorinvalidität bei periprothetischen Frakturen bei einliegender Endoprothese. Hierbei spielen der Zeitpunkt der Implantation, die Funktionstüchtigkeit und unfallunabhängige Erkrankungen wie zum Beispiel eine Osteoporose eine Rolle. Auch dieses Thema wird im vorliegenden Newsletter in einem eigenen Originalbeitrag des Referenten ausführlich erläutert.

In engem Zusammenhang mit der Bewertung von Endoprothesen und periprothetischen Frakturen steht die Begutachtung von hochbetagten Versicherten. Dr. Hartel verdeutlichte im 2. Teil seines Vortrags, dass die Verletzungsfolgen von dem weiteren unfallunabhängigen Alterungsverlauf abgegrenzt werden müssen. Diese Abgrenzung müsse sehr sorgfältig erfolgen. Benötigt werde eine Vielzahl ärztlichen Dokumenten zum Krankheitsverlauf und den unfallunabhängigen Erkrankungen. In der Regel gehörten hierzu auch der Schwerbehindertenbescheid und die Pflegegutachten vor und nach dem Unfall. Eine schematische Bewertung von Verletzungen bei alten Menschen komme nicht in Frage.

Abschließend stellte Prof. Dr. Thomann die Entwicklung der Gliedertaxe dar: Die ersten Gliedertaxe entstanden um 1850 im Rahmen der privaten Unfallversicherung, die Arbeitgeber für ihre Mitarbeiter abschlossen, um gegen mögliche Verpflichtungen aus einem Haftpflichtfall abgesichert zu sein. Diese Gliedertaxen der privaten Unfallversicherungen wurden – mit leichten Modifikationen – 1884 von der gesetzlichen Unfallversicherung übernommen. Die MdE-Werte der gesetzlichen Unfallversicherung, zum Beispiel für Amputationen der Extremitäten, veränderten sich im Vergleich zur Gliedertaxe nicht. Als Kriterium der Entschädigung wurde allerdings nicht mehr ein Gliedertaxwert angenommen (z. B. 70 % für den Verlust eines Armes oder Beines). Anstelle des Gliedertaxwertes trat der Begriff „Erwerbsminderung“ oder „Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)“.

Letztlich seien, so der Referent, „die heutigen MdE-Werte modifizierte Werte der Gliedertaxe“.

Die Veranstaltung zeichnete sich durch eine rege Diskussion mit durchaus kontroversen Beiträgen aus. Es bestand Konsens bei allen Teilnehmern, dass bei komplizierten Verletzungen, der Abklärung einer möglichen Vorinvalidität und bei der Einschätzung von Mitwirkung durch unfallfremde Gebrechen und Erkrankungen eine individuelle und sorgfältige persönliche Begutachtung unumgänglich ist. Mit einem sachlichen und sowohl für die Versicherten als auch für die Versicherungsmitarbeiter verständlichem Gutachten können mögliche Missverständnisse ausgeräumt und unnötige Gerichtsverfahren vermieden werden.

Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann

Newsletter Ausgabe 12/22