Folgen von HWS-Distorsionen klingen in aller Regel innerhalb eines kurzen Zeitraums, maximal sechs Wochen, ab, ohne einen Dauerschaden zu hinterlassen.

Keine Regel ohne Ausnahme: Eine besondere Situation kann vorliegen, wenn bei einer betroffenen Person bereits vor dem Unfallereignis ein pathologisch verengten Spinalkanal bestand oder Zeichen einer zervikalen Myelopathie vorlagen. In diesen Fällen war bereits zum Zeitpunkt des Unfalls eine relative Indikation für eine neurochirurgische Dekompressionsoperation gegeben. Die Indikation für derartige Eingriffe ist zwischen Neurologen, Neurochirurgen und Wirbelsäulenchirurgen umstritten; sie ist abhängig vom spezifischen Einzelfall.

Bei Versicherten mit Spinalkanalstenose ist zu prüfen, ob eine Vorinvalidität bestand und/oder ob eine Mitwirkung durch unfallfremde Erkrankungen oder Gebrechen bei den Unfallfolgen anzunehmen ist. Gemäß den Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) sind Mitwirkungen durch Krankheiten oder Gebrechen zu berücksichtigen, wenn diese mindestens zu 25% zu den Unfallfolgen beigetragen haben.

Was sagen die Musterbedingungen des GDV zur Mitwirkung?

㤠3.2 Mitwirkung: Treffen Unfallfolgen mit Krankheiten oder Gebrechen zusammen, gilt Folgendes:

§ 3.2.1 Entsprechend dem Umfang, in dem Krankheiten oder Gebrechen an der Gesundheitsschädigung oder ihren Folgen mitgewirkt haben (Mitwirkungsanteil), mindert sich bei den Leistungsarten Invaliditätsleistung und Unfallrente der Prozentsatz des Invaliditätsgrads …
Beispiel: Nach einer Beinverletzung besteht ein Invaliditätsgrad von 10%. Dabei hat eine Rheumaerkrankung zu 50% mitgewirkt. Der unfallbedingte Invaliditätsgrad beträgt daher 5%.

§ 3.2.2 Beträgt der Mitwirkungsanteil weniger als 25%, nehmen wir keine Minderung vor.“

Die Schwere des Unfallereignisses
Der begutachtende Arzt hat die Aufgabe, abzuschätzen, wie schwer das Unfallereignis war: Wie hoch war die mechanische Energie, die auf den Körper eingewirkte? Handelte es sich um einen „Bagatellunfall“ oder ein Ereignis, das auch bei einem Gesunden strukturelle Verletzungen, zum Beispiel Weichteileinblutungen, Längsbandzerreißungen oder Wirbelkörperbrüche hervorgerufen hätte? Oft ist eine Abschätzung nur annäherungsweise möglich.

Bei Gerichtsgutachten im Haftpflichtrecht steht dem Sachverständigen in der Regel ein unfallanalytisches Gutachten zur Verfügung, welches durch das Gericht veranlasst wurde. In diesen Fällen können exakte Aussagen zur Unfallenergie gemacht werden.


Ausprägung der Spinalkanalstenose
Die Sachverständige/der Sachverständige hat zu prüfen, wir stark die unfallunabhängigen Wirbelsäulenveränderungen (die Spinalkanalstenose) zum Zeitpunkt des Unfalls ausgeprägt waren. Da auch hochgradige degenerative HWS-Veränderungen nicht in allen Fällen Symptome bereiten, kann der Betroffene vor dem Unfallereignis subjektiv beschwerdefrei gewesen sein.


Der „Kneifzangeneffekt“ der Spinalkanalstenose
Bei Gesunden wird das Rückenmark – auch bei Einwirkung von relativ hohen mechanischen Energien auf Kopf und Halswirbelsäule – nicht verletzt. Das Rückenmark ist von Liquor umgeben. Dieser Flüssigkeitssaum zwischen Rückenmark und Wirbelkanal schützt das Rückenmark vor Verletzungen. Im übertragenen Sinn ist es wie „in einem Wasserkissen gebettet“.

Ganz anders ist die Situation bei einem engen Spinalkanal: Hier engen die knöchernen Strukturen oder Bandscheibenvorwölbungen den Spinalkanal ein und das Rückenmark (Myelon) ein. Sie halten das Myelon – bildlich gesprochen – „kneifzangenartig“ fest. Das Rückenmark kann sich nicht mehr gegenüber dem Spinalkanal verschieben, die Energie wirkt unmittelbar auf die neurologischen Strukturen ein.

Hätte sich das Rückenmark bei einer Distorsion der Wirbelsäule im Spinalkanal bewegen können, wäre bei einem altersgemäß normal weitem Spinalkanal keine Schädigung (Myelopathie, Rückenmarkerweichung) eingetreten. Nur weil das Rückenmark im Spinalkanal eingeklemmt war, konnte die beim Unfall freigesetzte mechanische Energie neurologische Ausfälle verursachen.

Zwei Ursachen für den Gesundheitsschaden: Unfall und Spinalkanalstenose
Das heißt: Bei einem Probanden ohne Spinalkanalstenose wäre es nicht zu einer Querschnittssymptomatik gekommen. Ohne das Unfallereignis hätte sich aber auch keine Querschnittssymptomatik ausgebildet. Somit muss neben dem Unfallereignis eine Mitwirkung der unfallunabhängigen degenerativen Halswirbelsäulenveränderung berücksichtigt werden.

Bei vorbestehenden klinisch-neurologischen Ausfällen bzw. einer Behandlungsbedürftigkeit liegt in der Regel bereits eine hochgradige Spinalkanalstenose vor. Wenn keine vorherigen Symptome bestanden, kann der Schweregrad der Spinalkanalstenose leichtgradig, mittelgradig oder auch hochgradig sein. Zur Objektivierung können Vergleichsdaten normaler alterskorrelierter Spinalkanaldurchmessers zugezogen werden.

  • Bei nur leichtgradigen Spinalkanalstenosen ohne vorherige Symptome und mittelgradigen bis hochgradigen Traumen ist in der Regel keine Mitwirkung bei der Feststellung der Invalidität zu berücksichtigen. Der Mitwirkungsanteil beträgt weniger als 25%, sollte allerdings auch in diesen Fällen vom Sachverständigen quantifiziert werden.
  • Bei mittelgradigen Spinalkanalstenosen ohne vorherige Symptome ist bei leichten Traumen eine hohe Mitwirkung über 50% bzw. 75% zu prüfen. Bei mittelgradigen Traumen ist eine Mitwirkung von 25% bis 50% zu prüfen. Bei schweren Traumen mit Wirbelköperfrakturen oder diskoligamentären Verletzungen entfällt in der Regel die Mitwirkung.
  • Bei hochgradigen Spinalkanalstenosen ohne vorherige klinische Symptome ist der Mitwirkungsgrad bei leichten Traumen mit über 75% anzunehmen, bei mittelschweren Traumen mit ca. 50% und bei schweren Traumen entfällt auch hier die Mitwirkung – es sei denn, dass bereits vor dem Unfall eine symptomatische hochgradige Spinalkanalstenose mit einer Myelopathie bestand. In diesen Fällen ist der Mitwirkungsanteil mit mehr als 50% zu beziffern.

Fazit für die Praxis
Der Mitwirkungsgrad bei Spinalkanalstenose ist immer individuell zu prüfen. Er ist abhängig von den vorbestehenden degenerativen oder anlagebedingten Wirbelsäulenveränderungen und der Energieeinwirkung auf den Körper durch den Unfall. Die verbleibende Invalidität und die Bewertung von Vorinvalidität und Mitwirkung sind im Rahmen einer eingehenden interdisziplinären Begutachtung auf neurologischem, unfallchirurgisch-orthopädischem und radiologischem Fachgebiet festzustellen.

 

Dr. med. Katrin Weigelt
Fachärztin für Neurologie, Sozialmedizin