Interdisziplinären Gutachten nach der Konzeption von Mazzotti und Castro sind aus methodischen Gründen bei Distorsionsverletzungen der Wirbelsäule in der Regel wenig geeignet, verlässliche Feststellungen zu Unfallverletzungen zu treffen. So lautet ein amtlicher Leitsatz eines Urteils des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe vom 27.6.2022 (AZ: 9 U 125/19; nicht rechtskräftig), über welches die Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“ in Heft 18 vom 15. September 2022 berichtet.

Nach diesem Gutachtenkonzept sollen zunächst durch einen technischen Sachverständigen Kollisions-bedingte Geschwindigkeitsänderungen der Fahrzeuge abgeschätzt werden. Im zweiten Schritt soll ein medizinischer Sachverständiger (Orthopäde) Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen anstellen zur Frage, ob bzw. inwieweit der (vom technischen Sachverständigen rekonstruierte) Unfallablauf orthopädische Verletzungen, insbesondere im Bereich der Wirbelsäule, verursachen kann. Diese Abschätzung soll dann die Grundlage für die Feststellung von Verletzungen und einer möglichen Unfallursächlichkeit sein.

Dieses Konzept erscheint jedoch zweifelhaft und zumindest dann wenig geeignet, wenn – wie im zu beurteilenden Fall – Verletzungen vorliegen, welche den Charakter von Funktionsstörungen haben, die nicht oder nicht ohne weiteres in bildgebenden Verfahren dokumentiert werden können, kritisierte das OLG. Es sei hochproblematisch, bei einem bereits eingetretenen Ereignis auf eine Prognose-Wahrscheinlichkeit abzustellen. Die Ursache für ein festgestelltes Ereignis könne grundsätzlich nicht durch eine ex-ante-Wahrscheinlichkeit bestimmt werden.

Distorsionsverletzungen der Wirbelsäule seinen dagegen für einen orthopädischen Sachverständigen – und für das Gericht – grundsätzlich auch dann objektivierbar, wenn eine Dokumentation durch bildgebende Verfahren nicht möglich sei. Erforderlich sei eine sorgfältige Untersuchung durch den medizinischen Sachverständigen, wobei insbesondere die Anamnese eine wesentliche Rolle spielen müsse.

Zum konkret zu beurteilenden Fall:
Im Vordergrund der Beschwerden des Klägers standen durch einen Verkehrsunfall bedingte Distorsionsverletzungen der Wirbelsäule. Während die Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule abgeklungen waren, bestanden die Beeinträchtigungen durch die Verletzung der Lendenwirbelsäule weiter.

Zwar hatte der Sachverständige bei Untersuchung des Klägers u. a. eine unfallunabhängige Fehlstatik der Wirbelsäule im Sinne eines Hohlrundrückens festgestellt, die bis zum Unfallereignis beschwerdefrei geblieben war. Allerdings war sie dann laut Sachverständigengutachten mitursächlich für den Verlauf und die Dauer der Beschwerden. Ohne diese Fehlstatik der Wirbelsäule wären die unfallbedingten Beeinträchtigungen (Schmerzen und Funktionseinschränkung) mit überwiegender Wahrscheinlichkeit etwa zwei Jahre nach dem Unfall abgeklungen.

Außerdem hatte der Sachverständige ein chronisches Schmerzsyndrom festgestellt. Dabei spielen psychosomatische Faktoren eine Rolle, welche gerade bei persistierenden orthopädischen Beeinträchtigungen nicht selten relevant seien. Im Falle des Klägers haben psychosomatische Faktoren dessen Beeinträchtigungen verstärkt. Es sei davon auszugehen, dass die durch den Unfall ausgelösten Beschwerden dauerhaften Charakter haben, wobei der Hohlrundrücken und die psychosomatischen Faktoren bei der Entwicklung des Schmerzsyndroms mitwirkende Ursachen seien, so der Sachverständige.

Die Verletzungen der Lendenwirbelsäule waren durch den Unfall verursacht worden, womit die Verursachung der Primärschädigung zur vollen Überzeugung des Gerichts feststand. Soweit bestimmte Dispositionen des Klägers (Hohlrundrücken und psychosoziale Umstände) für die weitere Entwicklung der Beeinträchtigung mitursächlich waren, ändert dies nichts an der Kausalität des Unfalls. Entscheidend ist, dass der Kläger ohne das Unfallereignis – trotz des Hohlrundrückens – mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht diejenigen Beschwerden hätte, unter er denen bis zur Gerichtsverhandlung leide, erklärte das OLG: „Ohne den Unfall als auslösendes Ereignis wäre der Kläger […] mit überwiegender Wahrscheinlichkeit beschwerdefrei.“

Newsletter Ausgabe 12/22