Bei der Beurteilung von Endoprothesen und periprothetischen Frakturen in der privaten Unfallversicherung ergeben sich einige Besonderheiten im Vergleich zu den sonst zu beurteilenden Gelenkfrakturen. Zahlenmäßig spielen endoprothetische Versorgungen des Hüftgelenks nach hüftgelenknahen Oberschenkelfrakturen die weitaus größte Rolle.

Aufgrund der sich ändernden Behandlungsempfehlungen körpernaher Oberarmfrakturen, insbesondere bei älteren Patienten, gewinnen Endoprothesen der Schultergelenke eine immer größere Bedeutung. Mit gewisser Regelmäßigkeit ist der endoprothetische Ersatz des Kniegelenks nach gelenknahen Verletzungen zu begutachten. Die Begutachtung von Endoprothesen anderer Körperregionen wie Handgelenk, Finger, oberes Sprunggelenk usw. beschränkt sich zurzeit auf wenige Einzelfälle.

In der gutachtlichen Praxis sind folgende Fallkonstellationen von Bedeutung:
1. Gelenknahe Fraktur mit der Notwendigkeit einer primären endoprothetischen Versorgung als Unfallfolge
Frakturen, die eine endoprothetische Versorgung nach sich ziehen, sind im Allgemeinen Folge einer schweren Gelenkverletzungen. In Abhängigkeit vom Dislokationsgrad der Fraktur und dem Alter der Betroffenen werden bei Gelenkverletzungen Rekonstruktionsversuche durch Osteosynthesen bevorzugt. Liegt eine Verletzung vor, die eine endoprothetische Versorgung erforderlich macht, so ist dies als „Second-Best-Lösung“ zu verstehen. Insofern bedeutet eine endoprothetische Versorgung nach einer Fraktur einen Verlust an körperlicher Integrität.

Gerade bei jüngeren Probanden oder bei der endoprothetischen Versorgung der oberen Extremitäten bedeutet das für das weitere Leben der Betroffenen, dass ihre körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird. Erinnert sei an sportliche Aktivitäten und körperlich belastende Berufe. So sind nach endoprothetischer Versorgung der unteren Extremitäten Tätigkeiten mit groben Belastungen, auf unebenem Gelände, mit der Notwenigkeit zu springen, mit Absturzgefahr oder auf Leitern und Gerüsten sowie bei Glätte nicht mehr zu empfehlen. Allerdings darf die berufliche Einschränkung bei der Bemessung der Invalidität nicht speziell berücksichtigt werden.

Bei endoprothetischer Versorgung der oberen Extremitäten verblieben lebenslang technisch bedingte Einschränkungen der Beweglichkeit und der Hebeleistung. Nicht zuletzt ist – bedingt durch einen Verschleiß der Endoprothese – in Abhängigkeit vom Lebensalter mit einer oder mehreren Wechseloperation(en) zu rechnen.

Diese Überlegungen führten zur Einführung des sogenannten „Prothesenzuschlages“, der im Jahre 2004 in der 4. Auflage des von G. Rompe und A. Erlenkämper herausgegebenen Werks publiziert wurde (Thieme Verlag, Stuttgart, S. 554).
F. Schröter und J. M. Fitzek schlugen einen Prothesenzuschlag in dem von ihnen entwickelten „modular aufgebauten Bewertungssystem“ vor. Dieses fand später modifiziert Eingang in die Bemessungsempfehlungen und hat sich bis heute erhalten.

Die aktuellen Bemessungsempfehlungen sehen in jungen Jahren sehr hohe Prothesenzuschläge vor; diese werden zurzeit kritisch diskutiert werden. In anderen Regularien, wie zum Beispiel der „European physical and mental disability rating scale for medical purposes“, denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank unterliegen, wird bei normal funktionierenden Endoprothesen kein Prothesenzuschlag hinzugerechnet.

Nach den Empfehlungen der orthopädisch-unfallchirurgischen Fachgesellschaften beträgt der Prothesenzuschlag ab dem 67. Lebensjahr für den künstlichen Hüftgelenkersatz 1/20 Beinwert, bzw. 2/20 Armwert an Schulter oder Ellenbogen. Eine derartige Bewertung dürfte auch zukünftig Bestand haben.

Alter bei Implantation Hüfte/Knie Schulter/Ellebogen
15-20 Jahre 11/20 12/20
31-35 Jahre 8/20 9/20
41-45 Jahre 6/20 7/20
46-50 Jahre 5/20 6/20
61-65 Jahre 2/20 3/20
ab 66 Jahre 1/20 2/20
Tabelle:

Prothesenzuschläge in Abhängigkeit vom Lebensalter und Lokalisation nach den Empfehlungen der Sektion Begutachtung der DGOU

 

2. Periprothetische Frakturen
Unter periprothetischen Frakturen versteht man Brüche, die in räumlichem Bezug zu eingebrachten Endoprothesen entstehen. Nach der Vancouver Klassifikation können dies Brüche sein, die die Endoprothese erreichen, körperfern oder körpernah davon liegen. Selbst Frakturen, die körperfern der Prothese liegen, aber Einfluss auf deren Funktion haben, werden unter dem Begriff „periprothetischen Frakturen“ subsummiert.

Im klinischen Sprachgebrauch werden gelegentlich auch Frakturen in räumlichen Bezug zu vorangegangenen osteosynthetischen Versorgungen als periprothetische Frakturen bezeichnet. Hier ist jedoch der Terminus „periimplantäre Fraktur“ zutreffender.

In therapeutischer Hinsicht gilt es, zunächst eine grundsätzliche Abwägung zu treffen:

  • Liegt bei periprothetischer Fraktur eine noch funktionsfähige und stabil verankerte Prothese vor, so ist in der Regel eine konservative Behandlung oder eine additive Stabilisierung durch Cerclagen, Platten oder ähnliche Montagen durchzuführen.
  • Ist die Prothese frakturbedingt gelockert oder wies diese vor dem aktuellen Unfallereignis bereits eine schlechte Funktion auf, so sind in der Regel Wechseloperationen mit speziellen Endoprothesenmodellen erforderlich.

Gutachtlich bedeutsam ist hierbei die Tatsache, dass es sich um oft sehr ausgedehnte Operationen mit einer erhöhten Komplikationsfrequenz handelt.

Die aktuellen wissenschaftlichen Daten weisen bei den Major-Komplikationen im Rahmen einer traumatisch bedingten Wechseloperation eine etwa fünffach erhöhte Komplikationsfrequenz gegenüber einer primären Endoprothesenimplantation auf. Regelmäßig sind nach erfolgtem Endoprothesenwechsel schlechtere funktionelle Ergebnisse als nach einer gleichgearteten Fraktur ohne vorher einliegende Endoprothese oder als bei einer primären Endoprothesenimplantation, zu erwarten.

Die gutachtliche Beurteilung einer periprothetischen Fraktur
Die gutachtliche Beurteilung einer periprothetischen Fraktur erfolgt zunächst nach den gleichen Grundsätzen wie jede andere Unfallbegutachtung. Hinsichtlich des Kausalzusammenhangs muss ein adäquates Unfallereignis nachweisbar sein.

Im Rahmen der gutachtlichen Untersuchung werden das Gangbild, die Beweglichkeit des betroffenen Gelenkes, das radiologische Ergebnis und Begleitfaktoren sowie etwaige neurologische Schädigungen nach den üblichen Kriterien bewertet.

Im Einzelfall können Schwierigkeiten mit der Beurteilung einer Vorinvalidität auftreten.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass beim Vorliegen einer Endoprothese – unabhängig von der Indikation bei der primären Implantation – von einem Verlust der Leistungsfähigkeit der betroffenen Extremität auszugehen ist und somit eine Vorinvalidität anzunehmen ist. Problematisch ist zuweilen die Bemessung der Höhe dieser Vorinvalidität.

Dies sei im Folgenden an einem kurzen Beispiel erläutert:

  • Eine zum Unfallzeitpunkt 61-jährige Probandin erleidet eine mediale Schenkelhalsfraktur, in deren Folge es zur Implantation einer Hüftgelenkstotalendoprothese kommt. Die gutachtliche Bewertung ergibt ein befriedigendes funktionelles Ergebnis und führt zu einer Bemessung mit 3/20 Beinwert. Der Prothesenzuschlag bei einer 64-jährigen Frau wird mit 2/20 Beinwert angegeben. Da der Zuschlag nur häftig zu berücksichtigen ist, beträgt die Gesamtinvalidität 4/20 Beinwert.
  • Dieselbe Person erleidet im Alter von 80 Jahren eine periprothetische Fraktur, die einen Prothesenwechsel erforderlich macht. Die anschließende gutachtliche Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass aufgrund der Befunde eine Gesamtinvalidität von 6/20 Beinwert vorliegt. Hiervon ist die Vorinvalidität von 4/20 Beinwert abzuziehen, so dass als ein unfallbedingter Invaliditätsgrad von 2/20 verbleibt.

In gleicher Weise kann auch bei periprothetischen Frakturen vorgegangen werden, welche Endoprothesen betreffen, die wegen einer unfallunabhängigen Hüftarthrose implantiert wurden:

Der Sachverständige kann sich die Frage stellen, mit welchem Invaliditätsgrad diese Prothese vor der periprothetischen Fraktur zu bewerten gewesen wäre. Dann wird der aktuelle Gesamtinvaliditätsgrad ermittelt und die Vorinvalidität wird ausgewiesen. Aus der Differenz zwischen Gesamtinvalidität und Vorinvalidität ergibt sich die aktuelle unfallbedingte Invalidität.

3. Fraktur an einem anderen Teil der prothesentragenden Extremität
Die dritte Konstellation, bei der Endoprothesen gutachtlich eine Rolle spielen, sind Fälle, in denen nach Implantation der Prothese eine Fraktur an einem anderen Teil derselben Extremität auftritt, z. B. Tibiakopffraktur bei einliegender Hüftgelenksendoprothese am gleichen Bein im Rahmen eines erneuten Unfallereignisses.

Auch hier stellt sich grundsätzliche die Frage, wie die Vorinvalidität durch die einliegende Endoprothese zu bemessen ist: Der Sachverständige hat zunächst die Vorinvalidität wegen der Endoprothese festzustellen. Dann wird die Gesamtinvalidität ermittelt, danach werden Vorinvalidität und Gesamtinvalidität im Gutachten ausgewiesen.

In Ausnahmefällen, insbesondere wenn keine validen Informationen vorliegen, mit denen die Höhe der Vorinvalidität eindeutig bestimmt werden kann, besteht eine Lösungsmöglichkeit darin, die Funktionsbeeinträchtigung des Hüftgelenkes „auszublenden“ und ausschließlich die Funktion des Kniegelenkes und Unterschenkels zu bewerten.

Hieraus ergibt sich eine sachgerechte Bewertung der zu beurteilenden Verletzung des Tibiakopfes. Die Ergebnisse der Invaliditätsbewertung sollten sich nicht unterscheiden. In jedem Fall muss der Sachverständige dieses nicht AUB-konforme Vorgehen transparent begründen, um sowohl der Versicherung, dem bzw. der Versicherten als auch einem später möglicherweise eingeschalteten Gericht seine Überlegungen zu verdeutlichen.

Fazit für die Praxis
Die Beurteilung von Endoprothesen und von periprothetischen Frakturen in der privaten Unfallversicherung erfolgt prinzipiell nach den gleichen Grundsätzen wie die Beurteilung aller anderen Verletzungsfolgen. Die Ansprüche hinsichtlich der Kausalität und Nachvollziehbarkeit der Vorgeschichte bis hin zum aktuellen Befund der gutachtlichen Untersuchung unterscheiden sich ebenfalls nicht von Begutachtungen anderer Unfallfolgen.

Der primären Implantation einer Endoprothese nach einem Unfall geht im Allgemeinen ein schweres Trauma voraus. Trotz meist guter funktioneller Ergebnisse durch die endoprothetische Versorgung bedeutet die Prothese einen Verlust der körperlichen Integrität und Leistungsfähigkeit, der je nach Alter variiert.

Bei der Beurteilung periprothetischer Frakturen ist besondere Sorgfalt auf die Beurteilung der Vorinvalidität zu richten. Diese begründet sich durch die zuvor eingebrachte Endoprothese und berücksichtigt die Funktion unmittelbar vor dem erneut aufgetretenen Ereignis, welches zur periprothetischen Fraktur führte.

Besonderes Augenmerk gilt dem Unfallzusammenhang, da periprothetische Frakturen auch ohne Unfallereignis im Rahmen einer Lockerung eintreten können.

Literatur

  • Grimm W., Kloth A (2021) Unfallversicherung AUB Kommentar. 6. Aufl. Beck, München.
  • Ludolph E., Reis S. (2022) Die Invalidität in der privaten Unfallversicherung. 6. Aufl. VVW, Karlsruhe.
  • Schiltenwolf M, Hollo, DF (Hg.) (2021) Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane. 7. Aufl., Thieme, Stuttgart.
  • Thomann KD, Grosser V, Schröter F (2020) Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung. Handbuch der klinischen Begutachtung. 3.Auf., Urban & Fischer/Elsevier, München.

Dr. med. Robert Hartel
Facharzt für Chirurgie, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie