Gemäß der Bemessungsrichtlinien in der privaten Unfallversicherung (PUV) hat die Einschätzung anhand der organischen Verletzungsfolgen und der daraus resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen zu erfolgen.

Grundannahme ist hierbei, dass Heilungsverläufe nach Verletzungen biologischen Grundsätzen folgen, daher in gewissen Grenzen vorhersehbar sind und zu vergleichbaren funktionellen Ergebnissen führen. Die unfallbedingte dauerhafte Beeinträchtigung kann nach Anpassung und Gewöhnung an die Unfallfolgen vorgenommen werden. Diese dauert mehrere Monate bis längstens drei Jahre; bei Kindern können fünf Jahre vergehen. Diesen Zeiträumen wird sich in den Karenzfristen der privaten Unfallversicherung Rechnung getragen.

Das Alter der Betroffenen findet insofern Eingang in die Bemessung, als dass die Bezugsgröße einer durchschnittlich versicherten Person vergleichbarer Konstitution, Alters und Geschlechtes ist (Siehe Grimm/Kloth, AUB-Kommentar). Dies bedeutet, dass unterschiedliche Bemessungen an die Funktionalität bei Menschen unterschiedlicher Altersgruppe anzuwenden sind.

Während im mittleren Lebensalter die oben genannte Grundannahme in der Regel zu korrekten Einschätzungen führt, können sich an den Rändern des Altersspektrums, bei sehr jungen und sehr alten Probanden, Verzerrungen ergeben.

Das Lebensalter beeinflusst die Heilung und die bleibenden Beeinträchtigungen

Analysiert man die Bedingungen der Unfälle in diesen Gruppen und das funktionelle Outcome, so ergibt sich, dass bei jungen Probanden eine eher hohe Unfallenergie zu höhergradigen Verletzungen führt, für die jedoch vielfältige Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Bei alten Personen liegen tendenziell eher eine niedrige Unfallenergie, niedriggradige Verletzungen, aber begrenzte Behandlungsmöglichkeiten vor.

Da junge Personen eine hohe Kompensationsfähigkeit haben, die mit zunehmendem Alter eher niedriger wird, sind in dieser Gruppe – trotz ungünstigerer Unfallvoraussetzungen – tendenziell günstigere funktionelle Ergebnisse zu verzeichnen, als bei sehr alten Probanden.

Fallbeispiel
Dies lässt sich anhand eines Fallbeispiels aus der Begutachtungspraxis des Unterzeichners verdeutlichen:

Zu beurteilen war die Unfallfolge eines am Unfallzeitpunkt 14-jährigen männlichen Versicherten, der sich bei einem Snowboard-Sprung über 30 Meter eine traumatische Epiphysiolyse des Knochenkerns der linken Hüfte zuzog. Trotz sorgfältig und korrekt durchgeführter offener Reposition und Verschraubung am Unfalltag kam es schrittweise zur sekundären Hüftkopfnekrose, welche die Implantation einer Hüftgelenks-Totalendoprothese (TEP) im Alter von 16 Jahren erforderlich machte.


Der bei der gutachterlichen Untersuchung äußerte der nun 19-jährige Proband insgesamt nur geringe Beschwerden. Er gab belastungsabhängige Beeinträchtigungen bei einer Gehstrecke von 15 Kilometern an.

Bei der Untersuchung fanden sich ein leicht links hinkendes Gangbild und eine moderate Bewegungseinschränkung des betroffenen Hüftgelenkes im Seitenvergleich – mit einer Einschränkung der Streck- und Beugefähigkeit von 30° und der Rotationsfähigkeit von 20°. Darüber hinaus fand sich ein Muskelminus am betroffenen Oberschenkel von 2 cm. Die übrigen Gelenke waren seitengleich und frei beweglich.

Unter rein funktionellen Gesichtspunkten wäre eine unfallbedingte Invalidität von 2/20 bis maximal 3/20 Beinwert angemessen gewesen.

Um die Bedeutung der Verletzung zu verdeutlichen, wird im Folgenden ein Exkurs in die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung vorgenommen – wenngleich diese für die medizinische Bewertung der Invalidität nicht maßgeblich ist:

Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist der Proband in der Lage, leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten (Hebelast < 15 kg) in wechselnden Körperhaltungen vollschichtig durchzuführen. Es bestehen Einschränkungen hinsichtlich der körperlichen Arbeitsschwere. Überwiegend mittelschwere oder schwere Tätigkeiten mit Heben und Bewegen von Lasten von mehr als 15 kg sollten unterbleiben. Arbeiten unter Absturzgefahr bei Glätte, Nässe, auf Gerüsten und Leitern oder schrägen Ebenen sowie in gebückter oder kniender Zwangshaltung, sind ebenfalls nicht mehr als leidensgerecht zu betrachten. Als Träger einer Endoprothese sollten dauerhafte Rüttelbelastungen ausgeschlossen werden.

Auch wenn diese Betrachtungsweise nicht den Bewertungskriterien der privaten Unfallversicherung entspricht, so verdeutlichen diese Überlegungen dennoch, dass junge Probanden in ihrer Lebensführung erheblichen Einschränkung ausgesetzt sind. Viele Bereiche des beruflichen, sozialen und auch sportlichen Kontextes bleiben ihnen verschlossen. Darüber hinaus muss mit der Notwendigkeit weiterer Wechseloperationen der Endoprothese gerechnet werden.

Diesem Umstand wird mit dem Prothesenzuschlag Rechnung getragen. Im vorliegenden Fall fällt dieser mit 11/20 Beinwert – scheinbar unplausibel hoch – aus.

Berücksichtigt man jedoch, dass in etwa 10 % aller Eingriffe an Endoprothesen wegen Lockerung, Fehlpositionierung oder Infekten erfolgen und dass die Ausfallswahrscheinlichkeit bei Prothesen, die infolge von Unfällen implantiert wurden, höher ist als bei elektiv implantierten Prothesen, so ergibt sich ein anderes Bild. Darüber hinaus führt der Einbau einer Hüftgelenks-Totalendoprothese zur Minderbelastung des Beines und nachteiligen Effekten auf das Gleichgewicht und die Propriozeption. Somit ist ein relevanter Zuschlag aus Sicht des Autors weiterhin angemessen.

Verletzungen bei älteren Personen

Begibt man sich an das andere Ende des Altersspektrums und betrachtet die hüftgelenknahen Femurfrakturen in hohem Lebensalter, so ist zunächst konstatieren, dass es sich hierbei – im Gegensatz zu derartigen Verletzungen bei jungen Patienten – um ein Massenphänomen handelt. Von den etwa 120.000 Fällen hüftgelenknaher Femurfrakturen jährlich in Deutschland entfallen 85 % auf die Altersgruppe der über 70-Jährigen.

Es bestehen in der Regel bereits zum Unfallzeitpunkt erhebliche funktionelle Beeinträchtigungen. In 50 % der Fälle wurde vor dem Unfall ein Pflegegrad 3 oder höher attestiert. Auch die Komplikationsrate ist deutlich höher als im jüngeren Lebensalter.

Zu berücksichtigen ist im Besonderen, dass der durchschnittliche altersbedingte Abbauprozess (Frailty) nicht als Gebrechen, also außerhalb der Norm liegend, zu werten ist, da dieser alle Menschen im vergleichbaren Alter betrifft.

Ausgeprägte anatomische Veränderungen, wie zum Beispiel schwere vorbestehende Koxarthrosen, dokumentierte Funktions-beeinträchtigungen der unteren Extremitäten, Stoffwechsel- und Durchblutungsstörungen können die Mitwirkung durch unfallfremde Gebrechen oder Erkrankungen begründen. Sorgfältig zu prüfen ist auch das Vorliegen einer eventuellen Osteoporose und deren Einfluss auf die Verletzungsfolgen – unter Berücksichtigung der Unfallenergie.

Die endoprothetische Versorgung oder Osteosynthese hüftgelenknaher Femurfrakturen führt in der Regel zu befriedigenden oder guten Funktionen des betroffenen Hüftgelenkes. Im Falle des Vorliegens einer vorbestehenden Koxarthrose ist sogar eine Funktionsverbesserung durch den Unfall und die nachfolgende Operation denkbar.

Dennoch handelt es sich um eine Verletzung mit Beeinträchtigung der körperlichen Integrität. Auch bei Hochbetagten ist ein geringer Prothesenzuschlag weiterhin gerechtfertigt.

Prothesenzuschläge: Aktuelle Empfehlungen (in Graden des Bein- bzw. Armwertes)

Alter (Jahre) bei Implantation Hüfte/Knie Schulter/Ellenbogen
15-20 11/20 12/20
21-25 10/20 11/20
26-30 09/20 10/20
31-35 08/20 09/20
36-40 07/20 08/20
41-45 06/20 07/20
46-50 05/20 06/20
51-55 04/20 05/20
56-60 03/20 04/20
61-65 02/20 03/20
>/= 66 01/20 02/20

Schiltenwolf, Dresing, Eckert et al.: Bemessungsempfehlungen für muskuloskelettale Verletzungsfolgen in der Privaten Unfallversicherung; Die Orthopädie 53, 56-68 (2024)
Open Access: https://doi.org/10.007/s00132-024-04499-2

Dr. Robert Hartel
Facharzt für Chirurgie, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie

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