Im Jahr 2022 wurde durch die Sektion Begutachtung der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie eine Neufassung der Bemessungsempfehlungen der privaten Unfallversicherung vorgenommen1. Diese sehen weiterhin Endoprothesenzuschläge vor, die zusätzlich zu dem Invaliditätsgrad zu berücksichtigen sind, der sich aus der funktionellen Beeinträchtigung der betroffenen Extremität ergibt.

Damit wurden keine Änderungen zu den in den aktuellen Standardwerken empfohlenen Werten vorgenommen. Im erklärenden Kommentar heißt es: „Für Minderbelastbarkeit/Lockerungsgefahr und zu erwartendem Prothesenwechsel wird abhängig vom Lebensalter ein Zuschlag gegeben. Bei Schulter-, Ellenbogen- und Sprunggelenkendoprothesen sind jeweils um 1/20 höhere Zuschläge gerechtfertigt.“

Endoprothesen am Bein (Hüfte, Knie) – Basisbewertung nach Funktion, zuzüglich Zuschlag nach Lebensalter

Lebensalter (Jahre) Prothesenzuschlag in Beinwert (70%)
1/20 Beinwert entsprechen 3,5% der Versicherungssumme
15–20 Jahre
11/20 Beinwert
21–25 Jahre 10/20 Beinwert
26–30 Jahre 9/20 Beinwert
31–35 Jahre 8/20 Beinwert
31–40 Jahre 7/20 Beinwert
41–45 Jahre 6/20 Beinwert
46–50 Jahre 5/20 Beinwert
51–55 Jahre 4/20 Beinwert
56–60 Jahre 2/20 Beinwert
61–65 Jahre 2/20 Beinwert
66 Jahre  und mehr 1/20 Beinwert

 

Sind die Prothesenzuschläge noch begründet?

Es wird diskutiert, ob ein derartiger Zuschlag noch angemessen ist. Klemm und Piontek argumentieren 2021 in einem Einführungswerk zur Begutachtung: „Dieser Prothesenzuschlag blieb im Gegensatz zu Österreich in Deutschland von der Versicherungswirtschaft unwidersprochen, bedarf aber dringend der Abschaffung, da er durch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse begründet werden kann.“2

Auf den ersten Blick erscheinen insbesondere die hohen Zuschläge im jüngeren Lebensalter problematisch.

Durch Marketingmaßnahmen der Prothesenhersteller wird der Eindruck erweckt, dass die sogenannten Standzeiten, das heißt die Zeiten, in denen eine durchschnittliche normale Funktionsfähigkeit einer eingebrachten Endoprothese zu erwarten sind, durch eine verbesserte Implantations- und Materialtechnik steigen.

Insbesondere ein stetiger Trend zur zementfreien Implantation von Hüftgelenkstotalendoprothesen setzt sich international durch.

Eine Auswertung der wissenschaftlichen Daten hierzu ergibt, dass die Standzeiten zwar steigen, die Lockerungsrate im Laufe der Zeit jedoch nicht unerheblich ist. Die Vorteile der veränderten Techniken, vor allem der Trend zur Implantation minimal invasiv eingebrachter Hüftgelenkstotalendoprothesen, sowie die Veränderungen der Materialeigenschaften der eingebrachten Implantate müssen sich im Langzeitverlauf erst noch beweisen.

„Die Ausfallwahrscheinlichkeiten liegen bei nicht-elektiven Eingriffen deutlich höher“

Ein Blick in die schwedischen Registerdaten von 2022 ergibt, dass in den letzten 10 Jahren (mit Schwankungen) etwa 30 % der endoprothetischen Versorgungen (Hüfte) wegen aseptischer Lockerungen durchgeführt werden. Ein vor dem Hintergrund o.g. technischen Entwicklungen erwarteter Rückgang der Operationshäufigkeit wegen dieser Indikation ist bisher nicht zu verzeichnen.

Vergleichbar sind die Statistiken in Deutschland. Nach Angaben im „Jahresbericht 2023 Endoprothesenregister Deutschland (EPRD)“ wurden 2022 wurden 177.826 Hüfterstimplantationen im EPRD dokumentiert. Im gleichen Zeitraum wurden 18.145 Folgeeingriffe am Hüftgelenk im EPRD dokumentiert, 14.997 davon erfolgten einzeitig.

Dies bedeutet, dass mehr als 10% aller Eingriffe an den Endoprothesen wegen Lockerung, Fehlpositionierung oder Infekten erfolgten. Bei dem unfallbedingt eingebauten Endoprothesen treten mehr Komplikationen auf. So heißt es im Bericht: „Die Ausfallwahrscheinlichkeiten liegen bei nicht-elektiven Eingriffen deutlich höher. Bislang ist noch kein Rückgang der Ausfallwahrscheinlichkeiten feststellbar.“

Vergleichbar ist die Situation am Kniegelenk: 2022 wurden insgesamt 137.030 Erstimplantationen bei 14.379 Folgeeingriffe am Kniegelenk im EPRD registriert. Dies bedeutet, dass auch am Kniegelenk mehr als 10% aller Operationen wegen Komplikationen erfolgten. Häufigste Ursachen für Wechseleingriffe am Knie waren Lockerungen (22,8 %) und Infektionen (14,5 %). Fast 56 % der Folgeeingriffe waren Komplettwechsel der vorausgegangenen Versorgung. Dabei handelt es sich in über 60 % der Fälle um Wechsel auf ein stärker gekoppeltes System.

Auch bei Knieversorgungen ist das Risiko eines Wechseleingriffs stark von der angegebenen Hauptdiagnose abhängig: „Die höchsten Ausfallwahrscheinlichkeiten bei arthrosebedingten Eingriffen weisen dabei die Versorgungen posttraumatischer Gonarthrosen auf“.

Fazit: Die Komplikationsraten und die Lockerungen insbesondere bei unfallbedingt implantierten Endoprothesen sprechen für den Beibehalt eines Prothesenzuschlags.

Ersetzt die Endoprothese vollständig die Funktion eines Gelenks?

Werden beide Beine nach Implantation einer Endoprothese gleichmäßig belastet?

Biomechanische Untersuchungen weisen nach, dass das Bein, dessen Hüfte endoprothetisch ersetzte ungefähr 10% geringer belastet wird als die gesunde Gegenseite. Zudem wirkt sich die Implantation einer Endoprothese nachteilig auf die Belastung, das Gleichgewicht und die Propriozeption aus.3 Stabilität und Balance leiden durch die Implantation einer Endoprothese.

Die Autoren schlussfolgern: „Our research shows that total hip replacement permanently impairs patients‘ dynamic balance and their functionality in certain lower-extremity activities.“

Endoprothesenzuschläge, ein deutscher Sonderweg?

Im internationalen Schrifttum wird der verbleibende Funktionsbeeinträchtigung – nach Implantation einer Hüftendoprothese – unabhängig vom Alter hoch bewertet. In den Begutachtungsrichtlinien der American Medical Association4 wird der Invaliditätsgrad (Whole Person Impairment) bei bestmöglicher Funktion mit 15% angegeben. Das würde dem Zuschlag bei endoprothetischem Gelenkersatz einer 51- bis 55-jährigen Person entsprechen. In dieser Altersstufe sehen die aktuell gültigen Bemessungsrichtlinien einen Zuschlag von 2/20 Beinwert, d. h. 7%, vor.

Welche statistische Bedeutung haben die hohen Endoprothesenzuschläge für junge Versicherte bei der Kalkulation der Versicherungsprämie?

Die private Unfallversicherung beruht auf statistischen Annahmen für Unfallhäufigkeiten, Verletzungen und Dauerschäden. Die Prämien werden unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse von den Aktuaren kalkuliert.

Mit welchen Häufigkeiten des endoprothetischen Gelenkersatzes ist in den unterschiedlichen Altersstufen zu rechnen? Auskunft gibt wiederum das Prothesenregister5:

  • Nur 1,7% aller Hüftendoprothesen werden bei unter 45-jährigen Patienten implantiert. 70,9% aller Implantationen betreffen Personen im Alter über 65 Jahre. Für diese Altersgruppe beträgt der Prothesenzuschlag gerade einmal 1/20 Beinwert, d. h. 3,5%.
  • Bei den Kniegelenken entfallen 0,6% auf die Altersgruppe unter 45 Jahren. 65,4% aller mit Endoprothesen versorgten Patienten sind über 65 Jahre alt. Auch für diese Gruppe gilt ein Zuschlag von 1/20 Beinwert.

Aus versicherungsmathematischer Sicht sind die Prothesenzuschläge für das Gesamtkollektiv somit zu vernachlässigen; sie spielen für die Gesamtaufwendungen der privaten Unfallversicherungen keine relevante Rolle. Im Gegenteil: Durch die Möglichkeiten des künstlichen Gelenkersatzes sind die funktionellen Ergebnisse nach schweren Gelenkverletzungen weitaus günstiger als vor der Einführung der Endoprothesen.

Kausalität und Begleiterkrankungen

Grundsätzlich gilt hinsichtlich der Begutachtung mit Endoprothesen versorgter Probanden, zunächst die üblichen Kriterien der Bemessung anzuwenden.

Insbesondere im höheren Lebensalter ist hier besonderes Augenmerk auf die Kausalitätsbeurteilung zu richten. Versichert ist die durchschnittliche Person gleichen Alters und Geschlechts.

Das heißt, eine durch – physiologische – Osteopenie bedingte höhere Frakturanfälligkeit älterer Probanden ist zu erwarten und stellt bei einem altersadäquaten Trauma keinen Grund für die Ablehnung einer Unfallkausalität dar. Erst bei Vorliegen einer manifesten, der Altersnorm vorauseilenden Osteoporose ist eine Mitwirkung zu diskutieren.

Auch andere Erkrankungsfolgen wie zum Beispiel eine osteoklastische Metastasierung sind im Hinblick auf Mitwirkung, Vorinvalidität und Kausalität zu prüfen.

Eine besondere gutachtliche Herausforderung besteht dann, wenn aufgrund der Aktenlage und der Untersuchung eine Osteoporose zu vermuten ist, die jedoch nicht messtechnisch quantifiziert wurde. Hier kann das Vorliegen anderer Osteoporose-assoziierter Frakturen, wie zum Beispiel spontaner Wirbelfrakturen, Hinweise geben.

Im zweiten Schritt ist bei gegebener Unfallkausalität eine sorgfältige gutachtliche Untersuchung erforderlich. Hier werden, neben der Gehstrecke und dem Gangbild sowie der Fähigkeit zum Treppensteigen, vor allem die Bewegungsausschläge des betroffenen Gelenkes berücksichtigt.

Bei Hüftendoprothesen ist auf muskuläre Insuffizienzen, wie zum Beispiel eine operationstechnisch bedingte Gluteus-Atrophie mit Trendelenburghinken und Absinken der Hüfte zur betroffenen Seite, zu achten. Hieraus kann sich im Einzelfall eine Erhöhung der unfallbedingten Invalidität ergeben. Im Bereich des Kniegelenkes sind vor allem ligamentäre Instabilitäten mit zu bewerten.

Erfahrungen aus eigener Begutachtung

Die Prothesenzuschläge haben sich im Laufe der Jahrzehnte deutlich verändert.

In einem frühen Werk zur privaten Unfallversicherung von Perret wurden im Jahre 1973 Prothesen mit schmerzloser geringer Bewegungshemmung, respektive mit schmerzhafter Bewegungshemmung des Hüftgelenkes, von 1/5 bis 2/5 Beinwert, respektive 1/3 bis 2/3 Beinwert, bemessen6. Eine Alterskorrektur war zu dieser Zeit noch nicht vorzunehmen.

Eine Betrachtung der aktuellen gültigen Prothesenzuschläge zeigt einen außerordentlich hohen Zuschlag bei jungen Probanden. So ist im Alter zwischen 15 und 20 Jahren ein Prothesenzuschlag von 11/20, zwischen 21 und 25 Jahren ein Prothesenzuschlag von 10/20 angegeben (s. Tabelle). Wie bereits dargestellt, handelt es sich dabei aber nur um wenige Fälle.

Der Autor hat in den vergangenen zwölf Monaten drei Begutachtungen nach medialen Schenkelhalsfrakturen in dieser Altersgruppe durchgeführt. In allen drei Fällen handelte es sich um hochenergetische Traumata (zweimal Sturz nach Sprung beim Snowboardfahren, einmal hochenergetischer Verkehrsunfall).

  • Allen drei Fällen war gemein, dass es sich um normgewichtige, sehr sportliche junge Menschen handelte. Die Kausalität war in allen drei Fällen zu bejahen.
  • Zwei der drei Fälle wurden primär mit Endoprothesen versorgt, der dritte Fall wurde nach primären Erhaltungsversuch und sekundärer Hüftgelenksnekrose mit einer Endoprothese versorgt.
  • Die funktionellen Ergebnisse waren allesamt hervorragend. Relevante Beinlängendifferenzen, muskuläre Insuffizienzen sowie Belastungsminderungen im Alltag bestanden nicht.
  • In zwei von drei Fällen war eine leichtgradig eingeschränkte Rotationsfähigkeit im Seitenvergleich festzustellen, wobei die absoluten Bewegungsausschläge sich noch im Bereich der Normwerte bewegten. Im dritten Fall war keinerlei funktionelle Beeinträchtigung festzustellen.
  • Die rein auf die Funktionsbeeinträchtigung bezogenen Bewertungen bewegten sich im Bereich von 1/20 bis 2/20 Beinwert.

Es stellt sich nun die Frage, ob ein Zuschlag von 10/20, respektive 11/20, bei einer derartig guten Funktion sachgerecht ist. Zu berücksichtigen ist dabei einerseits die hohe statistische Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Implantatversagen und Prothesenwechsel im weiteren Verlauf des Lebens. Die Restlebensdauer beträgt in den genannten Fällen jeweils über 60 Jahre!

Zudem ist zu berücksichtigen, dass es sich um die Folgen schwerster Gelenkverletzungen handelt. Eine Rekonstruktion und ein Erhalt der nativen Gelenke waren nicht möglich; das native Hüftgelenk ging definitiv verloren. Hieraus ergeben sich bezüglich der Lebensführung der jungen und aktiven Betroffenen erhebliche Beeinträchtigungen.

Nimmt man eine sozialmedizinische Leistungsbeurteilung vor, so ist die körperliche Leistungsfähigkeit stark herabgesetzt. Gelenkbelastende oder mit Verletzungsgefahr verbundene sportliche Aktivitäten können nicht mehr ausgeführt werden. Dies gilt für alle Lebensbereiche. Auszuschließen sind schwere körperliche Arbeiten, Arbeiten mit Absturzgefahr, mit besonderer Belastung des betroffenen Beines, in gebückter oder hockender Zwangshaltung, respektive kniend, und Rüttelbelastungen. Neben den Beeinträchtigungen der allgemeinen körperlichen Entfaltung ist zugleich ein großer Teil der Arbeitswelt für diese Menschen dauerhaft verschlossen.

Somit ist festzustellen, dass, trotz hervorragender Funktion der betroffenen Gelenke, eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensführung besteht bleibt. Mit zunehmendem Lebensalter verliert dieser Aspekt an Bedeutung, so dass eine Abstufung der Zuschläge sicher sachgerecht ist.

Bei Hochbetagten ist es möglich, dass durch die Prothesenimplantation im Vergleich zum Status vor der zugrunde liegenden Verletzung sogar eine Verbesserung der Funktion resultieren kann. Dies relativiert in dieser Gruppe die Bedeutung des Prothesenzuschlages.

Dennoch handelt es sich auch bei älteren Betroffenen um eine schwere Gelenkverletzung, die nicht selten – wenn auch nicht im Sinne einer kausalen Verursachung – den Startpunkt einer erheblichen Veränderung der Lebensumstände mit Verlust der Selbständigkeit und Mobilität, bis hin zur Pflegebedürftigkeit, darstellt. Der Gutachter ist gehalten, diese Entwicklung angemessen zu berücksichtigen.

Dr. Robert Hartel
Facharzt für Chirurgie, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie

Literatur

1 Sektion Begutachtung: Zur Diskussion: Bemessungsempfehlungen für muskuloskelettale Verletzungsfolgen in der Privaten Unfallversicherung. Autoren: Dresing K, Eyfferth T, Gaidzik PW, Grotz M, Lundin S, Schiltenwolf M, Thomann K-D, Widder B, Zeichen J. in: Der medizinische Sachverständige 118: 1/2022, Seite 14 ff. Ebenso: Orthopädie und Unfallchirurgie Mitteilungen (OUMN) Obere Extremität 6/2021, Untere Extremität 1/2022, Nervenschäden, Wirbelsäule, Becken 2/2022.

2 Klemm HT, Piontek S: Private Unfallversicherung. In: Klemm HT, Wich M (Hg.) Ärztliche Begutachtung. De Gruyter, Berlin 2021, S. 169-194.

3 Wareńczak A, Lisiński P. Body balance a few years after total hip replacement. Acta Bioeng Biomech. 2020;22(1):87-96. PMID: 32307451.

4 American Medical Association (2006) Guides to the Evaluation of Permanent Impairment. 5. Aufl. AMA Press, o. O., S. 546.

5 EPRD Deutsche Endoprothesenregister, 2023, S. 29.

6 Perret W: Was der Arzt von der privaten Unfallversicherung wissen muß. 2. Aufl., Barth, Frankfurt/M. 1973

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