Im Juni 2025 wurde von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) die „Empfehlung für die Begutachtung von Post Covid“ veröffentlicht. Diese behandelt die für die Begutachtung in der Gesetzlichen Unfallversicherung relevanten Aspekte des Post-COVID-Syndroms (PCS) sowohl bei Berufskrankheiten als auch bei Arbeitsunfällen.

Die als PDF zum Download erhältliche, 96 Seiten lange Empfehlung richtet sich in erster Linie an Gutachter, die beurteilen sollen, ob bei Versicherten eine Post-COVID-Symptomatik und daraus resultierende Gesundheitsschäden vorliegen, ob ein Zusammenhang zur beruflichen Tätigkeit besteht und welche mögliche Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) daraus resultiert. Die Empfehlung dient ebenso Sachbearbeitern bei den Unfallversicherungsträgern sowie der Richterschaft zur Orientierung und soll den versicherten Personen die gutachterlichen Einschätzungen nachvollziehbar machen, so die DGUV. Sie ist aber durchaus auch für die Begutachtung in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung und Krankentagegeldversicherung sehr hilfreich.

Hier zusammengefasst und geringfügig redaktionell überarbeitet einige besonders wichtige Ausführungen insbesondere zur Begutachtung von häufig geklagten, typischerweise nicht-organmedizinischen Beschwerden wie Fatigue (einschl. Post-exertional Malaise), kognitive Störungen sowie Schmerzen.

Rechtliche Grundlagen

Die Begutachtung erfordert

  • eine spezifische Anamnese, insbesondere Arbeitsanam­nese,
  • eine geeignete Diagnostik und Differentialdiagnostik sowie
  • die Beurteilung der Kausalität zwischen einer Infek­tionsgefahr mit Infektion (Berufskrankheit) beziehungs­weise einer Infektion (Arbeitsunfall) und den im Einzel­nen vorliegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen.

Der „naturwissenschaftlich-philosophische” Ursachenzu­sammenhang zwischen einer akuten COVID-19-Erkrankung und einem Folgeschaden ist nach wie vor schwer zu beurteilen, weil der Pathomechanismus aktuell nicht voll­ständig aufgeklärt ist. Vor diesem Hintergrund genügt der Nachweis einer COVID-19-Erkrankung für sich allein nicht, um auch später auftretende Gesundheitsbeeinträchtigungen ohne Weite­res als Folge dieser Erkrankung anzusehen. Die positive Feststellung des „naturwissenschaftlich-philosophische” Ursachenzusammenhangs ist Aufgabe der Sach­verständigen.

Dem Unfallversicherungsträger obliegt nach der Vorlage des Gutachtens dessen Würdigung und die abschließende Entscheidung.

Das Vorliegen eines Versicherungsfalls erfordert unter anderem

  • einen Gesundheitsschaden beziehungsweise eine Krankheit im Sinne eines regelwidrigen Körperzustan­des und
  • die Verursachung des Gesundheitsschadens bezie­hungsweise der Krankheit durch geeignete Einwirkun­gen im versicherten Umfeld.

Pathophysiologie

Die Pathogenese des Post-COVID-Syndroms (PCS) ist nicht geklärt und wahrscheinlich zudem auch nicht bei jedem Patienten gleich. Disku­tiert werden insbesondere Neurotransmitter-vermittelte Veränderungen, eine endothelial-mikrozirkulatorische Dysregulation, eine (unspezifische) postinfektiös fortbe­stehende Entzündung, eine mitochondriale Dysfunktion sowie (Virus-getriggerte) immunvermittelte Mechanismen, jedoch auch Überschneidungen mit psychischen und psychosomatischen Faktoren.

Fraglich ist die Bedeutung von Antikör­pern im Liquor nach einer SARS-CoV-2-Infek­tion. So ist nicht auszuschließen, dass es sich bei dem Antikörper-Befund um „normale“ Veränderungen mit zunehmendem Alter handelt. Auch für die in jüngster Zeit im Zusammenhang mit chronischen Fatigue-Sympto­men geltend gemachte „myalgische Enzephalomyelitis“ (CFS/ME) liegen keine Daten vor, die anhand von Liquor-Untersuchungen entzündliche Veränderungen im Zentralnervensystem im Sinne einer Enzephalitis oder Myelitis begründen könnten.

Diagnosestellung bei Post-COVID-Syndromen

Das Post-COVID-Syndrom (PCS) ist ein Syndrom und daher kein spezifisches Erkrankungsbild im Sinne einer speziellen Erkrankung. Alle Beschwerde-Konstellationen und Befunde sind in der Medizin bekannt und für PCS nicht spezifisch. Entspre­chend wichtig ist eine ausführliche Differentialdiagnostik.

Eine Begutachtung auf organischem Fachgebiet hat Vor­rang vor der Begutachtung auf psychischem Fachgebiet. Insbesondere bei geltend gemachter Atemnot und übermäßiger Erschöpfbarkeit, die im Zusammenhang mit einer Dyspnoe und/oder einem Fatigue-Syndrom stehen können, sind zunächst organische Ursachen zu klären. Die jeweiligen Sachverständigen sind insoweit über alle im Einzelfall beauftragten fachgebietlichen Gutachten zu informieren.

Die Diagnostik hat Organ- und Beschwerde-bezogen unter Beachtung der aktuellen Leitlinien zu erfolgen. Da sich Folgeschäden bei Post-COVID-Syndromen auf den verschiedenen Fachgebieten häufig überschneiden, ist die Diagnostik der verschiedenen Fachgebiete in eine Gesamtbewertung einzubeziehen. Insbesondere sind sämtliche Vorbefunde der behandelnden Fachärzte und Begutachtungen zu berücksichtigen.

Fatigue-Syndrom einschl. Post-exertional Malaise (PEM)

Fatigue stellt in Studien das häufigste geklagte Beschwer­debild im Rahmen eines PCS dar. Als Hauptsymptome werden eine verstärkte Anstrengungswahrnehmung und eingeschränkte Ausdauer bei anhal­tenden körperlichen und/oder geistigen Aktivitäten beziehungsweise – vereinfacht – eine abnorme Erschöpfbarkeit beschrieben, die über eine „reine“ Müdigkeit hinausgeht. Das Auftreten von Fatigue-Symptomen ist seit langem im Gefolge anderer Vi­ruserkrankungen, im Zusammenhang mit Tumorerkrankungen oder zum Beispiel bei der Multiplen Sklerose (MS) be­kannt.

Grundsätzlich begründet die Diagnose „Fatigue“ allein keine funktionelle Leistungseinschränkung. Im gutachtli­chen Kontext empfiehlt sich daher eine Unterscheidung zwischen „Fatigue“ als subjektivem Gefühl einer vorzeiti­gen Ermüdung mit resultierender Leistungsminderung und „Fatigability“ als einer nachweisbaren Minderung der motorischen und/oder kognitiven Performance.

Zur Erfassung subjektiv erlebter Fatigue-Symptome liegen zahlreiche Fragebögen vor, die für verschiedene Grunder­krankungen entwickelt wurden. Der Einsatz von Selbstbeurteilungsskalen und Fra­gebögen allein spiegelt jedoch lediglich das subjektive Erleben der Betroffenen wider und ist für eine Begutach­tung unzureichend. Fragebögen dienen daher vor allem der Verlaufsbeurteilung.

Sofern eine Fatigability nicht durch objektivierbare organ­medizinische Befunde belegbar ist, steht im Zentrum der gutachtlichen Bewertung eine Konsistenzprüfung der geklagten Beschwerden („Beschwerdenvalidierung“). Hierzu gehören als wesentliche Aspekte

  • eine subtile Analyse der Alltagsaktivitäten und der so­zialen Partizipation,
  • eine eingehende Erfassung der Symptome, die einer „Fremdbeurteilung“ durch den Untersucher zugänglich sind,
  • die Evaluation Infekt-unabhängiger konkurrierender Belastungsfaktoren und möglicher Zielkonflikte.

Eine über mehr als zwölf Monate anhaltende, mit relevanten beruf­lichen Leistungseinschränkungen einhergehende, stabil persistierende oder sogar progrediente Symptomatik sollte stets einer kritischen Prüfung unterzogen werden.

Zur Untersuchung kognitiver Fatigability ist im Regelfall eine eingehende psychometrische Überprüfung kogniti­ver Funktionen – insbesondere der Aufmerksamkeitsfunk­tionen – angezeigt.

Unter Post-exertional Malaise (PEM) wird eine mit einer Latenz von Stunden bis Tagen auftretende Symptom-Exazerbation nach bereits geringfügiger körperlicher und/oder geistiger Anstren­gung verstanden, die naturgemäß im Rahmen einer ein­maligen gutachtlichen Untersuchung nicht zuverlässig beurteilbar ist.

Bei entsprechenden Fragestellungen muss daher, falls keine eindeutige Aktenlage mit Ausschluss einer solchen Belastungsinsuffizienz vorliegt, gegebenen­falls eine mehrtägige Längsschnitt-Beobachtung durch geschultes medizinisches Personal im stationären Rah­men in Erwägung gezogen werden, gegebenenfalls auch mit Einsatz einer standardisierten „Evaluation der funk­tionellen Leistungsfähigkeit“ (EFL). Eine Objektivierung einer PEM-Symptomatik durch Biomarker ist aktuell nicht möglich.

Kognitive Störungen

Kognitive Störungen gehören zu den häufigen Sympto­men im Rahmen des PCS. Sie können als Folge direkter oder indirekter hirnorganischer Schädigun­gen durch die SARS-CoV-2-Infektion, als Begleitsymptom psychischer Folgeerkrankungen (wie posttraumatische Belastungsstörung, Angst und Depression) sowie im Kon­text somatischer Beschwerden (zum Beispiel Schmerz) auftreten.

Da kognitive Funktionsstörungen ätiologisch unspezifisch auftreten, lassen sich für die Diagnostik im Kontext einer SARS-CoV-2-Infektion die gleichen fachlichen Grundlagen nutzen, die bereits für die Begutachtung anderer Erkran­kungsbilder, zum Beispiel des Schädel-Hirn-Traumas, entwickelt und etabliert wurden: Vor dem Hintergrund einer umfassenden Anamnese und Exploration erfolgt eine psychometrische Überprüfung der kognitiven Funktionsbereiche Aufmerksamkeit, Ge­dächtnis, Exekutiv-, Sprach- und visuell-räumliche Funk­tionen. Hierzu gehört auch die Beurteilung der Affektivität.

Die Ergebnisse der psychometrischen Untersuchung werden einer umfassenden Beschwerdenvalidierung unterzogen sowie mit dem Status vor der SARS-CoV-2-Infektion (prämorbide Leistungsfähig­keit, gegebenenfalls leistungsrelevante Vorerkrankungen) und den Informationen aus Anamnese, Exploration und klinischer Verhaltensbeobachtung in Beziehung gesetzt.

Schmerzsyndrome

Im Rahmen eines PCS werden häufig unterschiedliche muskuloskelettal, myalgisch oder neuropathisch erschei­nende oder auch unspezifische Schmerzsyndrome geklagt. Außer den ätiologisch beziehungsweise organisch eindeutig zuordnungsfähigen Schmerzen, zum Beispiel im Rahmen einer Critical-Illness-Polyneuropathie (CIP), einer Small-Fiber-Neuropathie oder infolge disseminierter entzündlich bedingter Arthralgien, liegt bislang keine wissen­schaftliche Evidenz bezüglich COVID-19-spezifischer Schmerz­ursachen vor.

Die meisten dieser Symptome verringern sich innerhalb von zwei bis sechs Monaten. Langanhaltende Schmerzsyndrome sind gutachtlich daher in der Regel nur bei nachweisbaren organmedizinischen Befunden als PCS anzuerkennen und erfordern eine strenge Konsistenzprüfung.

Wesentlich ist in diesem Zusammenhang auch die gut­achtliche Bewertung der häufig von SARS-CoV-2-Infizier­ten längerfristig geklagten Kopfschmerz-Symptomatik. Entsprechend der Erfahrungen mit anderen Infekt-beding­ten Kopfschmerzen erscheint eine vorübergehende In­fekt-bedingte Kopfschmerz-Symptomatik auch über mehre­re Monate, zum Beispiel im Rahmen einer längerdauernden generellen Leistungseinschränkung, nachvollziehbar. Die Neuentstehung eines langanhaltenden Kopfschmerz­-Syndroms durch eine SARS-CoV-2-Infektion kann aktuell jedoch nicht als belegt angesehen werden.

Gutachtliche Beweisführung

Sind geklagte Beeinträchti­gungen wie Schmerzen oder Fatigue-Symptome vorwiegend im subjektiven Erleben der zu begutachtenden Person verhaftet, gilt es, möglichst viele Indizien zu sammeln, anhand derer dann eine „Brücke“ zwischen einem nachgewiesenen Schädigungsereignis und gel­tend gemachten Schädigungsfolgen gebildet werden kann. Ergibt das gesamte Spektrum der Befunde ein in sich schlüssiges Bild, können die subjek­tiv geklagten Beeinträchtigungen dann im Sinne eines „Indizienbeweises“ in tatsächlich bestehende Funk­tionsstörungen „transferiert“ werden. Dieser Nachweis erfordert stets eine umfassende Beschwerdenvalidierung in Abgleich von Aktenlage, Exploration, Beobachtung und erhebbaren klinischen Befunden.

Hinsichtlich der Erstsymptomatik sind bei der Begutachtung von Probanden mit geklagtem PCS zwei Situationen abzugrenzen:

  1. Relativ einfach erscheint die Beurteilung bei Infizierten mit einem mittelschweren bis schweren, zum Teil lebensbedrohlichen Akutverlauf, oft auch mit der Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Behand­lung, gegebenenfalls unter Einschluss einer extrakorpo­ralen Oxygenierung (ECMO-Therapie). In diesen Fällen sind zumeist eindeutige organpathologische Befunde – wie zum Beispiel Lungengerüstveränderungen, Myo­kardläsionen, Thrombosen, Enzephalitiden/Myelitiden oder objektivierbare neuromuskuläre Störungen mit begleitenden typischen Veränderungen in der kardio-pulmonalen und/oder neurologisch/neuropsychologi­schen Funktionsdiagnostik – nachweisbar. In dieser Gruppe finden sich auch psychoreaktive Störungen bis hin zur posttraumatischen Belastungsstörung.
  1. Schwierig zu erfassen und einzuordnen ist dagegen die vielge­staltige Symptomatik bei SARS-CoV-2-infizierten Perso­nen mit einem primär asymptomatischem oder leich­tem bis mittelschwerem Akutverlauf, die in der Regel ambulant, zum Teil aber auch stationär behandelt wur­den, und die über einen langen Zeitraum von zum Teil mehr als einem Jahr nach der Infektion über persistie­rende unspezifische Beschwerdebilder klagen, ohne dass eine korrespondierende Organpathologie nach­weisbar ist.

Die bei Punkt 2 genannten Fallkonstellationen stellen unter gut­achtlichen Aspekten eine große Herausforderung dar, erklären die Autoren. Sind hierbei relevante Funktionsstörungen nachgewie­sen, ist im zweiten Schritt der Ursachenzusammenhang in Abgrenzung zu Infekt-unabhängigen konkurrierenden Erkrankungen, Belastungsfaktoren und Aggravationstendenzen mit eingehender Erfassung beruflicher und privater Belastungsfaktoren und unter Beiziehung des Vorerkrankungs-Verzeichnisses zu klären.

Dr. Gerd-Marko Ostendorf
Versicherungsmediziner

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