Seminar des IVM am 21. Mai 2025 in Frankfurt
Die Begutachtung und die Entschädigung in der Privaten Unfallversicherung (PUV) einschl. der Frage, welche Bemessungsempfehlungen gültig sind, waren Themen eines Seminars des IVM am 21. Mai 2025 in Frankfurt/Main.
Die Private Unfallversicherung ergänzt die Gesetzliche Unfallversicherung und steht ihr an Bedeutung kaum nach. In Deutschland bestehen mehr als 70 Millionen private Unfallversicherungsverträge; dabei haben etwa 40% aller Haushalte eine Private Unfallversicherung abgeschlossen. Nach Angaben der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) werden pro Jahr ca. 3,5 Mrd. € an Entschädigung ausgezahlt.
Dieser hohe Betrag weist auf die Bedeutung der Invaliditätsbemessung in der Privaten Unfallversicherung hin. Eine gerechte Entschädigung ist jedoch nur dann möglich, wenn sich Sachverständige und Versicherungen auf allgemein anerkannte Invaliditätstabellen stützen können. Seit mehr als 40 Jahren geben die Bemessungsempfehlungen der unfallchirurgischen und orthopädischen Fachgesellschaften sowohl Gutachtern als auch Versicherten und Versicherungen Sicherheit bei der Feststellung des Invaliditätsgrades.
In den letzten zwei Jahren wurden jedoch daneben Tabellen veröffentlicht, deren Anwendung die Versicherten ganz überwiegend schlechter stellt und die zu einer erheblichen Verunsicherung geführt haben.
Anwendung von Bemessungsempfehlungen zu den Invaliditätstabellen
Zur Verwendung von Bemessungsempfehlungen zu den Invaliditätstabellen in der Privaten Unfallversicherung erklärte der Rechtsanwalt Oliver Tammer aus Frankfurt: Die Bemessung der Invalidität richtet sich nach der Gliedertaxe, sofern die betroffenen Körperteile oder Sinnesorgane dort genannt sind. Diese ermöglicht für typische Verletzungen ein hohes Maß an Gleichbehandlung aller Versicherten; Wertungswidersprüche sollen vermieden werden.
Für die in der Praxis zur teilweisen Invalidität führenden Verletzungen existieren Bewertungsempfehlungen in Tabellenform, wobei ein wissenschaftlicher Konsens darüber aus rechtlicher Sicht wünschenswert ist. Hierzu liegt insbesondere eine Systematik der zuständigen Gremien der DGOOC (Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie) und der DGU (Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie) vor.
Grundsätzlich muss der Gutachter bei einer Bemessung der Invalidität nach der Gliedertaxe aber beachten:
- Die konkret vereinbarte Gliedertaxe bildet Grundlage und Rahmen der Bemessung.
- Die Bemessungsempfehlungen können und sollen zur Einordnung individuell festgestellter medizinischer Sachverhalte in das System der Gliedertaxe verwendet werden.
- Eine rechtlich bindende Wirkung komme den Bemessungsempfehlungen allerdings nicht zu.
- Der Gutachter muss erläutern, ob und ggf. auf welche Weise er Bemessungsempfehlungen angewandt hat.
Die aktuellen Bemessungsempfehlungen der orthopädischen und unfallchirurgischen Fachgesellschaften (DGOU) wurden von dem Vorsitzenden der „Sektion Begutachtung“ der DGOU Prof. Dr. Klaus Dresing ausführlich erläutert. Er betonte, dass die jetzigen Bemessungsempfehlungen auch die Vorschläge einer Arbeitsgruppe um Klemm et al. berücksichtigt haben.
An Beispielen wies Dresing nach, dass die Empfehlungen der Fachgesellschaften die funktionellen Folgen und die Leistungsbeeinträchtigung angemessen bewerten. Für die konkrete Feststellung des Invaliditätsgrades sei allerdings der individuelle Befund ausschlaggebend. Abweichungen gegenüber den Tabellen der „Sektion Begutachtung“ sollten von dem Sachverständigen ausführlich begründet werden.
Die aktuellen Empfehlungen für die Feststellung des Invaliditätsgrades sind im Internet zugänglich: „Bemessungsempfehlungen für muskuloskelettale Verletzungsfolgen in der Privaten Unfallversicherung“ der Sektion Begutachtung der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Neurowissenschaftliche Begutachtung (DGNB) vom April 2024.
Die private Unfallversicherung vor Gericht: Welche Anforderungen müssen Gutachten aus richterlicher Sicht erfüllen?
Der Richter am Oberlandesgericht in Frankfurt Dr. Volker Konopatzki erläuterte die Kriterien der Begutachtung für Sachverständige vor Gericht: Voraussetzung für eine Bestellung ist die absolute Neutralität und Unparteilichkeit des Sachverständigen. Gründe für eine Ablehnung sind die Mitwirkung am konkreten Fall (Vorbehandlung, Parteigutachten), Verbindungen zu einem der Behandler bzw. Privatgutachter oder Tätigkeit für eine Partei.
Der Sachverständige darf eigenmächtig keine Unterlagen beiziehen oder sonstige eigenmächtige Maßnahmen ohne Information des Gerichts und insbesondere der Gegenseite ergreifen. Die Feststellung der Befangenheit ist nicht an eine angebliche oder tatsächliche Unrichtigkeit einer sachverständigen Feststellung oder Bewertung gebunden.
Dabei sollte der Sachverständige das Gutachten aufgrund des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes erstatten. Eine Hilfe können hierbei die Leitlinien der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sein. Deren Zuziehung ist allerdings im Einzelfall nicht zwingend erforderlich.
Bei der Abfassung des Gutachtens sollte der medizinisch Sachverständige „immer an den Leser denken“. Richter und Anwälte seien „medizinische Laien mit Wikipedia-Zugriff“. Die Sprache muss verständlich sein; Gutachten sind keine medizinischen Fachveröffentlichungen. Fachbegriffe sollten (ggf. in Klammern) erläutert werden.
Am Ende des Gutachtens soll der Sachverständige die Beweisfragen beantworten, sich jedoch einer rechtlichen Beurteilung enthalten. Bei der Bemessung der Invalidität empfiehlt es sich, den Invaliditätsgrad an Beispielen zu erläutern und ggf. Ausführungen zu einem höheren bzw. niedrigeren Grad der Invalidität zu machen, um dem Gericht die Abgrenzung zu ermöglichen. Der Gutachter sollte zudem seine Quellen benennen und ggf. Kopien der entscheidenden Stellen und/oder Graphiken beifügen.
Interdisziplinäre Begutachtung beim Polytrauma
Beim Polytrauma handelt es sich um mehrere, gleichzeitig entstandene lebensbedrohliche Verletzungen verschiedener Körperregionen, erläuterte der Orthopäde und Unfallchirurg Dr. Robert Hartel vom IVM.
Dabei sind die Folgen gravierender als die einzelnen Verletzungsanteile:
- Längere und intensivere Behandlung
- Höhere Komplikationsrate
- Funktionsbeeinträchtigungen beeinflussen sich gegenseitig negativ und potenzieren die gesundheitlichen Folgen
- Verletzungsanteile werden manchmal erst verspätet diagnostiziert
- Schwerwiegende Langzeitfolgen bzw. Folgeerkrankungen
- Hohe Invalidität
In der interdisziplinären Begutachtung für die Private Unfallversicherung ergibt sich das Problem der Abgrenzung der Folgeschäden auf dem jeweiligen Fachgebiet mit der Gefahr einer möglichen „Überbewertung“ der gesundheitlichen Folgen. Daher sollte – ähnlich wie in der Gesetzlichen Unfallversicherung – ein „Hauptgutachter“ folgende Aufgaben übernehmen:
- Koordination der einzelnen Fachgebiete (auch hinsichtlich der Sprachregelung)
- Kontrolle der verschiedenen Fachgutachten auf Vollständigkeit
- Abstimmung hinsichtlich der Bewertung
- Erstellen einer Zusammenfassung mit integrierter Bewertung der einzelnen Fachgutachten für den Auftraggeber (Versicherungsunternehmen, Gericht)
Anmerkung:
Angesichts der guten Resonanz auf die Vorträge und der lebhaften Diskussion wird auch im Frühjahr 2026 wieder eine medizinisch-juristische Fortbildungsveranstaltung des IVM stattfinden.
Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann
Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Rheumatologie, Sozialmedizin
Dr. Gerd-Marko Ostendorf
Versicherungsmediziner
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