ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom) als schwere Ausprägung des Post-COVID-Syndroms, welche angeblich bei etwa 60 % der Betroffenen zur Erwerbsunfähigkeit führt, ist sehr problematisch zu begutachten. Das gilt auch für die länger als 14 Stunden anhaltende Post-Exertional Malaise (PEM), angeblich das Leitsymptom von ME/CFS mit einem hohen diagnostischen Stellenwert.

In einer gemeinsamen Stellungnahme zur Begutachtung bei Fatigue-Symptomen führen die Deutsche Gesellschaft für neurowissenschaftliche Begutachtung (DGNB) sowie die weiteren Fachgesellschaften DGN, DGPPN, DGPM und DGPPR vom 4. September 2023 dazu aus:

  • Unter dem Begriff der Fatigue wird üblicherweise das subjektive Gefühl einer vorzeitigen geistigen und/oder körperlichen Abgeschlagenheit, abnormen Ermüdbarkeit und/oder Erschöpftheit verstanden. Sie ist nicht gleichzusetzen mit einer erhöhten Tagesmüdigkeit bzw. -schläfrigkeit, welche Leitsymptom von Schlafstörungen sein kann. Bei längerer Dauer der Symptomatik wird häufig von einem Chronic Fatigue Syndrom (CFS) gesprochen.
  • Zwar wird verschiedentlich ein CFS auch ohne nähere diagnostische Klärung lediglich anhand deskriptiver Kriterien mit einer entzündlichen Erkrankung des Zentralnervensystems gleichgesetzt, die mit Muskelschmerzen einhergeht („myalgische Enzephalomyelitis“, CFS/ME). Im gutachtlichen Kontext sind Diagnosen jedoch ausschließlich dann zu stellen, wenn die zugrunde liegende Erkrankung – in diesem Fall die entzündliche Hirn- bzw. Rückenmarkserkrankung – ohne vernünftigen Zweifel, also im rechtlichen „Vollbeweis“, nachgewiesen ist. … Gleiches gilt für die sog. „Post Exertional Malaise“ (PEM), die ein unspezifisches Beschwerdebild mit Verschlechterung nach vorhergehender Anstrengung beschreibt.
  • Subjektiv berichtete Fatigue-Symptome allein – z.B. in der Selbsteinschätzung in Fragebögen – können im gutachtlichen Kontext keine Leistungsminderung begründen, sondern nur dann, wenn diese mit einer objektiv nachweisbaren Minderung der kognitiven und/oder motorischen Performance verbunden ist. Da im rechtlichen Kontext nicht nur Diagnosen, sondern auch die damit zusammenhängenden Funktionsstörungen ohne vernünftigen Zweifel nachweisbar sein müssen („Vollbeweis“), erscheint es daher stets sinnvoll, zwischen subjektiver „Fatigue“ und durch geeignete neuropsychologische Verfahren objektivierter „Fatigability“ zu unterscheiden.
  • Nachdem Fatigue-Symptome Ausdruck einer zerebral bedingten Leistungsbeeinträchtigung sein können, erfordert die Diagnosestellung und Objektivierung einer Fatigability regelmäßig spezifische Erfahrung sowohl auf neurologischem als auch psychiatrischem und psychosomatischem Fachgebiet. Gerade wegen der komplexen Differenzialdiagnostik ist es wichtig, dass die Begutachtung aus der Breite der Fachgebiete heraus erfolgt und CFS nicht als isolierte Krankheitsentität gesehen wird. Darüber hinaus wird für die Beurteilung der kognitiven Fatigability spezifische neuropsychologische Kompetenz benötigt.

https://dgn.org/artikel/begutachtung-bei-fatigue-symptomen