Die HWS-Distorsion, Verletzungen von Bändern, Bandscheiben und Frakturen der Halswirbelkörper spielen bei älteren Personen eine zunehmende Rolle.
Wichtige Hinweise für die Begutachtung gibt ein neues Kapitel in dem von K.-D. Thomann und V. Grosser herausgegeben Standardwerk „Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung“, dass im Herbst 2025 in 4. Auflage im Verlag Elsevier erscheinen wird.
Das hier vorgelegte Kapitel wurde von der Neurologin Dr. Katrin Weigelt, Leiterin der Abteilung neurologisch-psychiatrische Begutachtung im IVM, verfasst.
Dem Verlag Elsevier sei für die Genehmigung zum Abdruck gedankt.

Ein Referenzwerk der medizinischen Begutachtung erscheint in überarbeiteter und aktualisierter 4. Auflage.
Erscheinungstermin voraussichtlich Januar 2026
Preis ca. € 159.- €
Biomechanik der Halswirbelsäule
Biomechanisch ist die Halswirbelsäule der beweglichste Teil der Wirbelsäule; dies gilt sowohl für die Rotation als auch für die Ventral- und Dorsalflexion und alle Kombinationsbewegungen. Mit zunehmendem Alter entstehen degenerative Veränderungen der Uncovertebralgelenke, die von einer Höhenminderung der Bandscheiben begleitet werden. Zudem können die im Wirbelkanal verlaufenden Ligg. flava hypertrophieren. Die Arthrosen der Intervertebralgelenke können die Foramina intervertebralia einengen. Durch den mit der zunehmender Osteochondrose einhergehenden Anbau knöcherner Randleisten an den Grund- und Deckplatten der Wirbelkörper (Spondylosen) verringert sich der Durchmesser des Spinalkanals.
Trotz dieses natürlichen Alterungsprozesses bleibt die Funktion der austretenden Spinalnerven und des Rückenmarks bei der Mehrheit der Menschen intakt. Kommt es jedoch zu einer Kompression der Nervenwurzeln. so können daraus spezifische, anatomisch umschriebene Gefühlsstörungen und motorische Ausfällen entstehen.
Die Bedeutung des prämedullären Reserveraums
Der prämedulläre Reserveraum zwischen dem Arcus vertebrae, der dorsalen Begrenzung des Wirbelkörpers mit der anliegenden Dura und dem Rückenmark, ermöglicht Bewegungen der knöchernen Strukturen der HWS, ohne das Rückenmark zu schädigen.
Schreitet der degenerative Prozess jedoch weiter fort und engt sich dadurch der Spinalkanal ein, so vermindert sich der prämedulläre Reserveraum, der das Gleiten des Rückenmarks im Spinalkanal bei kontrollierten und unkontrollierten Bewegungen ermöglicht. Nun liegen die knöchernen Begrenzungen von Wirbelbögen und Wirbelkörper dem Rückenmark an. Das Rückenmark wird kneifzangenartig komprimiert (Kneifzangenmechanismus nach Kuhlendahl). Auf dieser anatomischen Grundlage kann sich eine zervikale Myelopathie entwickeln.
Die zervikale Myelopathie
Das Krankheitsbild der zervikalen Myelopathie ist durch eine Vielzahl von Symptomen gekennzeichnet, die je nach Schwere bis zu einer inkompletten Tetraplegie führen können. Hierzu gehören spastische Tonuserhöhungen an den unteren und oberen Extremitäten in Folge einer Schädigung der Pyramidenbahnen, Beeinträchtigungen der Gehfähigkeit (Ataxie), Paresen der Arm- und Beinmuskulatur und radikulären sensible Ausfällen.
Von der Einengung betroffen sind vor allem die Segmente HWK 5 bis HWK 7. Die unfallunabhängige zervikale Myelopathie ist die häufigste Erkrankung des Rückenmarks im hohen Lebensalter.
In den „Leitlinien der Neurologie“ (Ludolph, A. C. et al. 2017) werden folgende charakteristische Symptome beschreiben:
- Feinmotorikstörung, Schwäche und Gefühlsstörungen der Hände
- zentrale Parese der Beine, Tiefensensibilitätsstörung der Beine und Gangunsicherheit
- Blasen-, Mastdarm-, und Potenzstörungen
- Schmerzen in HWS, Schulter, Arm
- Reflexsteigerungen
- pathologische Fremdreflexe und Kloni der unteren Extremitäten
- positives Lhermitte-Zeichen
- Paraspastik, Gangataxie
- autonome Störungen
- Sensibilitätsstörungen, Reflexabschwächung bzw. -verlust, Paresen, Atrophien an den Armen und radikuläre Syndrome im Bereich der oberen Extremitäten
Erhöhte Vulnerabilität des eingeengten Rückenmarks
In der Leitlinie der Neurologie wird auf die Komplexität des Zusammenspiels zwischen dem anatomisch engen Spinalkanal und weiteren Faktoren hingewiesen: „Die Variabilität des Erscheinungsbildes der ZSM [zervikale spinale Stenose und Myelopathie] ist Ausdruck einer komplexen und im Einzelfall unterschiedlichen Interaktion verschiedener mechanischer und vaskulärer Faktoren. Durch die Kompression von Myelon und Nervenwurzeln kommt es zur direkten Schädigung der Myelinscheide, später auch des Axons und sekundär auch der Integrität des Zellsomas. Hierdurch werden die motorischen und sensiblen Symptome der Erkrankung sowie das Schmerzsyndrom verursacht. Zu dem durch die Enge ständig bestehenden statischen Druck kommt eine dynamische Komponente, die sich bei Bewegung verstärken kann. Darüber hinaus scheinen auch vaskuläre Faktoren (Drosselung der arteriellen Blutzufuhr, druckbedingte Reduktion des venösen Abflusses) sowie ein Myelonödem zur Pathogenese beizutragen.“ (Ludolph, A. C. et al. 2017)
Die Begutachtung nach Traumen bei degenerativer Spinalkanalstenose und zervikaler Myelopathie der HWS in der gesetzlichen und privaten Unfallversicherung
Die Begutachtung nach Traumen bei degenerativer Spinalkanalstenose und zervikaler Myelopathie der HWS ist komplex. Bei normal weitem Spinalkanal hinterlassen Distorsionen der HWS in aller Regel keine Dauerfolgen.
Liegt eine Spinalkanalstenose bzw. eine zervikale Myelopathie vor, so ist der dem fraglichen Ereignis bestehende klinische und neurologische Befund und das angegeben Trauma in Beziehung zu setzen.
In aller Regel ist in diesen Fällen eine sorgfältige interdisziplinäre Begutachtung auf neurologischem, unfallchirurgisch-orthopädischem und radiologischem Fachgebiet erforderlich. Die MdE und der Invaliditätsgrad sind abschließend gemeinsam zu ermitteln.
Um welches Trauma handelte es sich?
Es ist abzuschätzen, wie schwergradig das Unfallereignis war, d. h. welche Kraft/Gewalt auf den Körper und die Halswirbelsäule eingewirkt hat. Handelte es sich um ein Trauma, dass auch bei Gesunden zu einer Verletzung der HWS und Schädigung des Rückenmarks geführt hätte (Sturz von einer Treppe oder Leiter) oder ein Bagatellereignis, das ohne vorbestehende Spinalkanalstenose folgenlos geblieben wäre (z. B. einfache Schädelprellung mit HWS-Distorsion ohne strukturelle Verletzung)?
Hohe Gewalteinwirkungen sind radiologisch zum Beispiel in Form von Weichteileinblutungen, Längsbandzerreißungen oder Wirbelkörperbrüchen nachweisbar.
Lag eine Spinalkanalstenose zum Zeitpunkt des Unfalls vor?
Es ist zu prüfen, wie ausgeprägt die unfallunabhängigen Wirbelsäulenveränderungen waren:
- Befand sich der Betroffene bereits vor dem Unfall wegen HWS-Beschwerden oder neurologischen Symptomen in Behandlung?
- Wurden bereits vor dem Unfall bildtechnische Befunde der HWS angefertigt?
- Wenn ja, mit welchem Ergebnis?
- Lag eine anerkannte Schwerbehinderung als Folge eines Wirbelsäulenleidens?
- Hatte die Pflegeversicherung bereits einen Pflegegrad anerkannt?
Allerdings ist bei der Beurteilung der Auswirkungen geringer bis mittelgradiger Unfälle nicht entscheidend, ob der Betroffene bereits schon vor dem Unfallereignis subjektive Beschwerden oder auch bereits ärztlich festgestellte Beeinträchtigungen hatte. Auch hochgradige degenerative HWS-Veränderungen können subjektiv beschwerdefrei bleiben, obwohl Spondylosen und Spondylarthrosen zu hochgradigen Einengungen des Spinalkanals geführt hatten.
Die Spianlkanalstenose erhöht die Wahrscheinlichkeit, einen Dauerschaden bei einem HWS-Trauma zu erleiden, um mehr als das Hundertfache!
Eine Arbeitsgruppe um Tsuneaki Takao publizierte in der angesehenen Zeitschrift European Spine Journal im Jahr 2013 eine Risikobewertung zwischen Probanden mit einer anlagebedingten (unfallunabhängigen) Spinalkanalstenose und einem Trauma der Halswirbelsäule ohne Frakturen. Das Risiko, eine neurologische Symptomatik bei einer anlagebedingten Einengung des Spinalkanals durch ein geringes Trauma zu erleiden, war in der Gruppe mit dem eingeengten Spinalkanal 124,5-mal höher als bei einem ausreichend weiten Spinalkanal!
Bei geringfügigem Trauma ist die Spinalkanaleinengung Voraussetzung für die Entstehung neurologischer Ausfälle. Dadurch, dass das Rückenmark kneifzangenartig festgehalten wurde, konnte die mechanische Energie des Unfallgeschehens ungeschützt auf das Rückenmark einwirken und die neurologischen Ausfälle verursachen. Das heißt: Bei einem Probanden ohne degenerative Halswirbelsäulenveränderungen wäre es sehr wahrscheinlich nicht zu einer Querschnittssymptomatik gekommen. Ohne das Unfallereignis hätte sich aber bei einer relevanten Gewalteinwirkung auch keine Querschnittssymptomatik ausgebildet.
Somit muss eine Mitwirkung der unfallunabhängigen degenerativen Halswirbelsäulenveränderung berücksichtigt werden. Bei vorbestehenden klinischen Beschwerden bzw. einer Behandlungsbedürftigkeit liegt in der Regel bereits eine hochgradige Spinalkanalstenose vor. Die Angabe von sensiblen Missempfindungen an den Gliedmaßen beweist allerdings keine radikuläre Schädigung. Hier ist zwingend eine genaue Dermatomeinteilung, passend zum Schädigungsort, zu fordern.
Bewertung einer zervikalen Myelopathie nach Unfällen in der gesetzlichen und privaten Unfallversicherung
In der gesetzlichen Unfallversicherung sind die Folgen eines Unfalls unter Berücksichtigung der „Theorie der wesentlichen Bedingung“ zu prüfen. Sofern der Unfall die wesentliche Ursache für neurologische und unfallchirurgische Symptomatik war, werden die gesundheitlichen Folgen dem Unfallereignis zugerechnet.
In der privaten Unfallversicherung gilt die „Adäquanztheorie“; der Unfallversicherer haftet nur für den unfallbedingten Anteil der durch den körperlichen Leistungseinschränkung („Partialkausalität“). Zuerst sind Vorschäden in Abzug zu bringen (Vorinvalidität). Haben unfallbedingte Gebrechen oder Erkrankungen an dem Unfallereignis mitgewirkt, so ist dieser Anteil prozentual anzugeben Liegt die Mitwirkung unter 25%, so unterbleibt, so bleibt diese unberücksichtigt.
Für einen adäquaten Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsbeeinträchtigung reicht es in der privaten Unfallversicherung aus, dass das Unfallereignis an der eingetretenen Funktionsbeeinträchtigung mitgewirkt hat diese Mitwirkung nicht gänzlich außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegt. Vorschäden schließen daher für sich genommen die Kausalität nicht aus (BGH 19.10.2016 – IV ZR 521/14).
Wie kann die Mitwirkung in der privaten Unfallversicherung eingeschätzt werden?
Wenn keine vorherigen Symptome bestanden, kann der Schweregrad der Spinalkanalstenose leichtgradig, mittelgradig oder auch schwergradig sein.
Bei einer nur leichtgradigen Spinalkanalstenosen ohne vorherige Symptome und oder mittelgradigen/schwergradigen Traumen ist in der Regel keine Mitwirkung festzustellen werden.
Bei mittelgradigen Spinalkanalstenosen ohne vorherige Symptome ist bei leichten Traumen eine hohe Mitwirkung über 50% bis 75% zu prüfen; bei mittelgradigen Traumen eine Mitwirkung von 30% – 50%. Bei schweren Traumen und mittelgradigen Spinalkanalstenosen entfällt in der Regel die Mitwirkung.
Bei hochgradigen Spinalkanalstenosen ohne vorherige klinische Symptome ist der Mitwirkungsgrad bei leichten Traumen mit über 75% anzunehmen, bei mittelschweren Traumen mit 50% – 75% und bei schweren Traumen entfällt auch hier die Mitwirkung.
Bei hochgradigen Spinalkanalstenosen mit vorbestehenden klinischen Symptomen und ggf. auch Behandlungsbedürftigkeit ist – je nach Unfallschwere – eine Mitwirkung von 50% – 95% anzunehmen.
Grad der Spinalkanalstenose | Leichtgradige Spinalkanalstenosen ohne vorherige Symptome | Mittelgradige Spinalkanalstenose ohne vorherige Symptome | Hochgradige Spinalkanalstenose ohne vorherige klinische Symptome | Hochgradige Spinalkanalstenose mit vorbestehenden klinischen Symptomen |
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Unfallschwere | ||||
Leichter Unfall Schwergrad 0-1 Bagatelle, bei Gesunden keine relevante Verletzung zu erwarten |
Keine Mitwirkung, in der Regel keine verbleibenden Unfallfolgen | Mitwirkung über 50% bis 75% | Mitwirkung über 75% | Mitwirkung über 80% – 95% |
Mittlerer Unfall Schwergrad 2 Sturz in der Ebene, klinisch äußere Verletzungszeichen nachweisbar, kernspintomographisch eindeutige traumatische Einwirkungen belegt, z. B. Einblutungen, Bone Bruise |
Keine Mitwirkung | Mitwirkung von 30% – 50% | Mitwirkung von 50% | Mitwirkung 50% – 75% |
Schwerer Unfall Schwergrad 3 Sturz von einer Leiter; Verkehrsunfall mit hoher Gewalteinwirkung klinisch ausgeprägte Verletzungen, Frakturen, Luxationen |
Keine Mitwirkung | Keine Mitwirkung | Mitwirkung von 30 % | Mitwirkung von 50 % |
Hinweise für die Abschätzung des Mitwirkungsgrads der Spinalkanalstenose in der privaten Unfallversicherung – unter Berücksichtigung der Unfallschwere
Vorinvalidität und Mitwirkung sind immer individuell zu prüfen!
Zu berücksichtigen sind das Ausmaß der vor dem Unfall bestehenden Spinalkanalstenose und der Krafteinwirkung auf den Körper bei dem Unfallereignis. Bei allen Verkehrsunfällen ist eine unfallanalytische Beurteilung wünschenswert; diese liegt allerdings in der Regel nur bei Haftpflichtfällen vor. Der Proband sollte gefragt werden, ob im Rahmen eines zivilen Rechtsstreits ein unfallanalytisches Gutachten erstellt wurde. Dieses kann dann bei der Bewertung der einwirkenden Gewalt zu Grunde gelegt werden.
Dr. Katrin Weigelt
Fachärztin für Neurologie, Sozialmedizin
Institut für Versicherungsmedizin, Frankfurt
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