Seminar des IVM am 20. März 2025 in Frankfurt
Die medizinischen und psychologischen Grundlagen der Entstehung und Chronifizierung von Schmerzen, die Therapie organischer und psychischer Schmerzen sowie die Begutachtung von Menschen mit chronischen und außergewöhnlichen Schmerzen waren Themen eines Seminars des IVM am 20. März 2025 in Frankfurt/Main, geleitet von Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann:
Schmerzen und Schmerzerleben spielen bei fast jeder Begutachtung eine Rolle. Medizinische Gutachter, Anwälte und die Gerichte müssen Antworten finden, um berechtigte Ansprüche des Versicherten, Geschädigten bzw. Soldaten zu erfüllen. Davon abzugrenzen – und primär zu erkennen – sind nicht begründete Forderungen, negative Antwortverzerrungen und Mitnahmeeffekte, welche die Gemeinschaft belasten und die ernsthaft Geschädigten diskreditieren.
Körperliche und seelische Schmerzen:
Medizinische Grundlagen, Therapieverfahren und Begutachtung
Einen einleitenden Überblick über die Grundlagen von körperlichen und seelischen Schmerzen in der Begutachtung gab der Orthopäde/Unfallchirurg, Rheumatologe und Sozialmediziner Prof. Dr. Thomann. Körperliche und seelische Schmerzen sind zentraler Bestandteil menschlichen Lebens und unterliegen einer kulturellen Prägung, was sich auch in Bezeichnungen wie „Hexenschuss“ zeigt.
So spielen in der Begutachtung chronische primäre Schmerzen bei emotionalem Stress (wie Angst, Ärger/Frustration oder depressive Stimmung) eine wesentlich größere Rolle als chronische Schmerzen mit einer definierten organischen Ursache. Beispiele sind etwa das ausgedehnte Schmerzsyndrom oder primäre Kopfschmerzen.
Problematisch ist, dass die Schmerztherapie weitgehend in der Hand von Anästhesisten liegt, obwohl ca. 90 % der chronischen Schmerzen nicht somatisch bedingt sind.
Über neue Verfahren und bewährte Therapien in der Behandlung von Schmerzpatienten berichtete der Neurologe und Schmerztherapeut Priv.-Doz. Dr. Charly Gaul vom Kopfschmerzzentrum in Frankfurt.
Am Beispiel der häufigen unspezifischen Rückenschmerzen erklärte er, dass das Erleben und die Chronifizierung von Schmerzen ein multifaktorieller Prozess sind. Daher seien unimodale therapeutische Strategien häufig nicht zielführend. Ganz wichtig sei hier die Edukation des Patienten, denn „nur das Rezept und die Physiotherapie – das funktioniert nicht“, so Gaul. Sicher nicht hilfreich seien etwa orale Steroide, periradikuläre Injektionen (PRT), Thermokoagulation bzw. Radiofrequenz-Denervierung der Facettengelenke oder Operationen der Wirbelsäule bzw. der Bandscheiben.
Problematisch bei unspezifischen Rückenschmerzen sei zudem eine ungerechtfertigte Bildgebung, etwa eine frühe MRT-Untersuchung, da diese starke iatrogene Effekte auslösen könne, wie häufigere Operationen an der Wirbelsäule und höhere Behandlungskosten.
Als neue medikamentöse Therapieverfahren für die Migräne nannte Gaul:
- Botulinumtoxin zur Prophylaxe bei chronischer Migräne (mindestens 15 Kopfschmerz-Tage pro Monat)
- Gepante zur Prophylaxe und Akuttherapie der Migräne
- Lasmiditan zur Akuttherapie der Migräne bei vaskulären Erkrankungen
- Monoklonale Antikörper gegen den CGRP- oder den CGRP-Antikörper zur Prophylaxe der Migräne
- PACAP-Antikörper als zukünftige Option
Schmerzbegutachtung aus neurologischer und psychiatrischer sowie aus orthopädischer Sicht
Schmerzen und Schmerzbegutachtung aus neurologischer und psychiatrischer Sicht unter Berücksichtigung der AWMF-Leitlinie „Ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen“ thematisierte der Neurologe und Psychiater Prof. Dr. Bernhard Widder von der Neurowissenschaftlichen Gutachtenstelle am Bezirkskrankenhaus Günzburg.
Er betonte die Wichtigkeit einer ausführlichen Anamnese in der Schmerzbegutachtung, auch zu Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens und in der Partizipation: „Wer bei der Arbeit Schmerzen hat, hat diese auch zuhause und in der Freizeit!“
„Begutachtung ist Beschwerdenvalidierung“, so Widder:
- Nur selten entwickeln sich im Rahmen von Begutachtungen völlig neue Diagnosen.
- Die Probanden sind davon überzeugt, dass sie Beschwerden haben und ihnen dafür eine Entschädigung zusteht.
- Die essentielle gutachtliche Leistung ist – zumindest bei Zustandsgutachten – die Klärung, ob bzw. in welchem Umfang die Beschwerden tatsächlich bestehen.
→ Die meisten Schritte der gutachtlichen Exploration und Untersuchung dienen daher der Beschwerdenvalidierung.
Hinweise auf nicht oder nicht in dem geklagten Umfang vorhandene Funktionsbeeinträchtigungen ergeben sich etwa aus Diskrepanzen zwischen den Angaben des Probanden und der Aktenlage oder aus Diskrepanzen zwischen dem klinischen Bild im Rahmen der Begutachtung und den Ergebnissen in neuropsychologischen Tests (inkl. Beschwerdenvalidierungstests).
Für Konsistenz sprechen dagegen der Nachweis eines nachvollziehbaren klinischen Verlaufs sowie der Nachweis eines schlüssigen Bildes von Akten und gutachtlich erhobenem klinischem Befund (Beschwerdenvalidierung). Aus gutachtlicher Sicht nicht ausreichend ist dagegen die alleinige Verwendung eines Schmerzfragebogens.
Die praktische Schmerzbegutachtung aus orthopädischer Sicht präsentierte der Orthopäde/Unfallchirurg, Rheumatologe, Rehabilitationsmediziner und Schmerztherapeut Prof. Dr. Marcus Schiltenwolf, Leiter des Bereichs Konservative Orthopädie und Schmerztherapie an der Universitätsklinik Heidelberg.
Diagnosen nach der ICD-10 sind nicht entscheidend für die Begutachtung, sondern die belegbaren Auswirkungen etwa auf die berufliche Leistungsfähigkeit, erklärte er. So sei auf Inkonsistenzen zwischen den geklagten Beschwerden im Vortrag des Probanden und dem gutachtlich erhobenen Befund zu prüfen. „Ein Schmerz als Sekundärschaden erfordert immer den Blick auf die gesamte Vorgeschichte“, betonte Schiltenwolf.
„Außergewöhnliche“ Schmerzen und Traumafolgestörungen in der Begutachtung
Über die Begutachtung von Probanden mit chronischen Schmerzen und Traumafolgestörungen sowie Besonderheiten im Wehrdienstbeschädigungs-(WDB-)Verfahren berichtete die Psychiaterin und Psychotherapeutin Flottillenarzt Dr. Stephanie Milde, Stellvertretende Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychotraumatologie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm.
Sie verwies auf die hohen Komorbiditätsraten zwischen chronischen Schmerzen und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). (Früh-)kindliche und lebensgeschichtliche Traumatisierungen tragen zur Aufrechterhaltung und Chronifizierung mancher Schmerzsyndrome bei. Trotz der hohen Überlappung ist allerdings der Zusammenhang zwischen chronischem Schmerz und einer PTBS oft unklar.
Abschließend erörterte Prof. Dr. Thomann (in Vertretung des erkrankten Dr. Robert Hartel) die Frage der unfallchirurgischen Begutachtung von „normalen“ und außergewöhnlichen Schmerzen für die gesetzlichen und privaten Unfallversicherung:
Zu berücksichtigen ist der Schmerz zusätzlich bei der Einschätzung der MdE und der Bemessung des Invaliditätsgrades bei
- überdurchschnittlichen Verletzungsfolgen mit entsprechenden funktionellen Beeinträchtigungen
- ausgeprägter Muskelminderung
- hochgradiger Bewegungseinschränkungen / Kontrakturen
- trophischen Störungen
- neurologischen Unfallfolgen
- psychischen Unfallfolgen (in der gesetzlichen Unfallversicherung; dagegen besteht in der privaten Unfallversicherung ein Ausschluss dafür!)
Dr. Gerd-Marko Ostendorf
Versicherungsmediziner
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